»Vater, wir haben seit Monden keinen einzigen Abend zusammen verbracht. Ich wüsste nicht, was wir heute Abend tun sollten.«
»Wir könnten uns unterhalten.«
»Worüber?« Meine Wortwahl war sicherlich nicht ermutigend.
»Über uns.«
»Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gäbe. Es ist alles gesagt.«
Warum bloß hatte ich so heftig reagiert? Ich sah sein betretenes Gesicht: Er tat mir Leid. Als ich die Hand heben wollte, um ihm wie früher zärtlich über die Wange zu streichen und mich bei ihm zu entschuldigen, drehte er sich abrupt um und verschwand.
Allein stand ich mit meinem Sack im Büro des Tempelschreibers.
Mein Vater kehrte zu seiner Pyramide zurück.
Das Bildnis war ihm so ähnlich, dass ich für einen Augenblick vergaß, dass eine Figur aus Stein vor mir stand. Die Statue aus Diorit war nicht bemalt, aber das Gesicht war so lebendig, das Strahlen in seinen Augen durch den polierten schwarzen Stein so geschickt wiedergegeben und das feine Lächeln so gut getroffen, dass ich sein Ka in der Statue vermutete. Eine Weile stand ich und starrte ihn an. Dann küsste ich seine lächelnden Lippen.
»Das Volk liebt den Gott Seneferu!« Ich fuhr herum. Hinter mir stand ein Priester des Ptah mit langem Leinenschurz. »Du aber scheinst dich in den Menschen Seneferu verliebt zu haben. Ich werde dir ein Geheimnis verraten: Es gibt keinen Menschen im Königsornat.« Der Priester deutete auf die Reihe der Königsstatuen in der Großen Halle des Tempels. »Sie alle waren keine Menschen. Meni hat das Undenkbare zu Ende gedacht und das Obere und Untere Land vereinigt. Djoser hat das Unsichtbare sichtbar gemacht, als er die Strahlen des Re in die Form einer Pyramide einschloss. Seneferu Nebmaat ist der Herr der Weltordnung. Er darf kein Mensch sein, selbst wenn er es wollte.«
Der kahlgeschorene Priester, der sich mir als Sethi vorstellte, trug die traditionelle Amtstracht der Ptah-Diener mit aus Leinen gefaltetem Schurz und einem Pantherfell über der Schulter. Er hatte sich in die Würde seines Priesteramtes gewickelt wie in ein Leinentuch. Aber schützte sie ihn wirklich vor dem Gefühl der Einsamkeit?
Der Tempel des Gottes Ptah war ein Abbild der Natur des Landes. Aus dem fruchtbaren Land wuchsen die bunt bemalten Säulen der Lotus- oder Papyrusstängel in den Himmel hinauf, der mit Sternen auf dunkelblauem Grund bemalt war. Die Mauern mit Reliefs in Form von Schilfmatten symbolisierten die Schilfhütten des Sumpfgebietes, das hier in Mempi begann.
Wir durchquerten die Große Halle, und ich starrte an die Decke etliche Ellen über mir, während der Priester Sethi mit der Rezitation der Tempelregeln begann, als wären die Verbote die Weltordnung der Maat. »Regel eins: du verlässt den Tempel nie ohne Genehmigung. Verstanden?«
»Ja!« Warum sollte ich den Wunsch haben, den Tempel zu verlassen? Ich war doch gerade erst angekommen!
»Regel zwei: du verlässt den Tempel nie ohne Begleitung.«
»Niemals«, bestätigte ich.
»Regel drei: Während der Nachtstunden, während der Morgen- und der Abendriten, während der anderen kultischen Handlungen an Feiertagen und an normalen Tagen musst du dich still verhalten. Stille heißt im Tempel des Ptah: Schweigen.«
»Ich darf nichts sagen?«
»Du hast richtig verstanden, Nefrit. Schweigen heißt: nicht sprechen, nicht lachen, nicht flüstern. Stille bedeutet aber auch, dass du, solltest du Tempeldienst haben, diesen leise verrichtest und nicht mit den goldenen und silbernen Gefäßen klapperst.
Regel vier: du darfst im Tempelbezirk nicht rennen, auch wenn es dir in deinem Alter manchmal schwer fallen sollte. Die Priesterschaft und damit auch die Schüler der Tempelschule bewegen sich bedächtig und würdevoll.«
»Ich werde mich bemühen«, versprach ich.
»Regel fünf: Gehorsam gegenüber den Priestern.«
Das war wohl die Regel, die mir am meisten Ärger bereiten würde.
»Regel sechs: du verhältst dich den Priestern gegenüber so, wie du wünschst, dass sie dir begegnen: mit Respekt und Würde. Du wirst den Priestern keine schönen Augen machen und sie nicht zu Handlungen verführen, die nicht in ihrem Aufgabengebiet liegen. Hast du mich verstanden?«
»Klar und deutlich«, sagte ich.
»Regel sieben: Deine Ausbildung ist umfassend und teuer. Du wirst dir Mühe geben, das übermittelte Wissen aufzunehmen und anzuwenden. Du wirst dich bemühen, keine Frage zweimal zu stellen. Du wirst deinen Mitschülern helfen, wenn sie Probleme haben.«
Der Gottesdiener Sethi zählte zweiundzwanzig Regeln auf, die das Leben im Tempel in geordnete Bahnen lenken sollte. Mehr als zweihundert Priester und hundertzwanzig Tempelschüler lebten in den Mauern des Ptah-Tempels. Der Tempel war eine Stadt in der Stadt.
Wir erreichten den Großen Sonnenhof, in dem das Volk nach Bezahlung der erforderlichen Gebühr an die Priester seine Opfer bringen durfte. Links und rechts begrenzten Säulen den Hof, der auf einen Pylon, einen riesigen Torbau, mündete. Der Pylon war mit bunt bemalten Reliefs geschmückt, die den Gott Ptah und seine Gemahlin Sekhmet zeigten. Vor ihnen stand der König mit Opferschalen in der Hand.
Hinter dem Pylon durchquerten wir einen großen Hof mit Statuen und Säulenhallen, dann eine kleinere Vorhalle und einen großen Säulensaal vor dem zentralen Tempelbezirk.
Wir betraten die Heilige Halle mit den angrenzenden Kulträumen. In der Halle war es beinahe dunkel, nachdem sich Re auf den Horizont gesenkt hatte. Während der Fußboden von Raum zu Raum ständig anstieg, verringerte sich die Deckenhöhe, die längs der Tempelachse symmetrisch angeordneten Innenräume wurden niedriger, schmaler und dunkler.
Die Tempelwände in diesem Gebäude waren mit Bronze- und Weißgoldblechen verkleidet, der Tempelboden mit Silber, das den Urozean darstellen sollte, die Decken als Himmel mit Lapislazuli und Gold. Auch die Götter- und Königsfiguren waren in diesem Teil des Tempels aus edleren Steinen als im Säulenvorhof, zu dem auch das Volk Zutritt hatte. Die Statuen waren aus Granit oder Basalt farblich wie Menschen gestaltet. Besonders die Augen dieser Statuen, die aus Bergkristall aus dem Sinai bestanden, faszinierten mich. Im Licht von Fackeln und Kohlebecken sah ich etliche Schritte vor mir Priester und Tempeldiener die Abendriten für Ptah und Sekhmet im steinernen Götterschrein durchführen. Von Nebenräumen, Magazinen, Sakristeien, Archiven, Kapellen für kleinere Götter umgeben, lag zentral und irgendwie zu klein geraten die Kapelle des Allerheiligsten mit dem Granitschrein für das Götterbild des Ptah, und auf einem Sockel in einem Nebenraum die tragbare Barke für Prozessionen des Gottes. Diese Kapelle war der Sitz der Gottheit inmitten des Tempels, der verkleinert dem Kosmos entsprach. Obwohl ich noch nie einen Tempel betreten hatte, erkannte ich sofort die Bedeutung der verschiedenen Räume und Bauelemente. Es hatte sich gelohnt, Imhoteps Schriften über Architektur mit meinem Vater zusammen zu lesen.
»Morgen Früh wirst du zum ersten Mal an den heiligen Morgenriten teilnehmen, Nefrit!«, erklärte Sethi. »Der Tag beginnt sehr früh bei uns im Tempel, bereits lange vor Erscheinen des Re. Du erhebst dich von deinem Lager, sobald du den Weckruf vom Tempeldach vernimmst. Dann gehst du mit den anderen Schülern hinunter zum Heiligen See und reinigst deinen Körper. Sobald Re den Horizont überschritten hat, wartest du mit den anderen, bis ein Priester euch abholt.«
Die Wohnräume für die Schüler und Schülerinnen der Tempelschule befanden sich im hinteren Teil des Tempels direkt am Heiligen See. Ich teilte meine Kammer mit Iya.
Iya war kaum älter als ich. Unter ihrem durchscheinenden Gewand zeichneten sich die Umrisse ihres Körpers ab. Sie war das anmutigste Wesen, das ich je gesehen hatte. Jedes ihrer Worte wurde von einer Bewegung ihrer Hände begleitet.
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