Sie fuhren mit dem letzten Schiff zurück Richtung Heimat und kosteten auf dem vorderen Deck des Schiffes die letzten Sonnenstrahlen aus. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und ließen sich den Fahrwind auf ihren von Sonnenbrand leicht geröteten Wangen wehen. Tina saß mit dem Rücken zu Henry und dieser hatte sie eng von hinten umschlugen. Tinas Kopf lag an seiner Brust und sie hatte ihre Augen geschlossen. Henry unterbrach plötzlich die Stille.
„Was machen wir morgen bei der Arbeit?“
„Was meinst du?“, sagte Tina.
„Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht sollten wir das mit uns vorerst für uns behalten.“
„Oh… na gut“, sagte Tina und konnte nichts dagegen tun, dass sie enttäuscht klang. Dabei war Tina sich selbst nicht sicher, ob sie wirklich wollte, dass die gesamte Belegschaft des Hotels von ihrem Techtelmechtel mit Henry erfuhr bevor sie selbst wusste, wohin das Ganze letztendlich führte. Was Tina vor allem aber missfiel war, dass sie es somit auch ihrer besten Freundin nicht sagen konnte. Doch es musste wohl sein. Es würde ihnen vermutlich schon schwer genug fallen, ihre Beziehung geheim zu halten und wenn es erst einmal jemand wusste, würde es zweifelsohne schnell die Runde machen und schließlich auch an die Ohren ihrer Chefin dringen. Das wollte Tina auf jeden Fall vermeiden.
„Bist du enttäuscht?“, fragte Henry, der Tinas Reaktion sehr wohl aufgefallen war.
„Nein, ist schon okay.“
Henry gab ihr einen Kuss auf die Wange und drehte ihr Gesicht in seine Richtung, so dass sie ihn ansehen musste.
„Es ist nicht so, dass es mir unangenehm wäre, doch ich würde einfach gerne noch etwas warten. Zum einen geht es niemand etwas an und ich wünsche mir, dass es etwas ganz privates zwischen uns ist und ich möchte, dass uns das niemand nimmt. Außerdem würde ich gerne meine Prüfung in drei Wochen abwarten, ehe wir uns outen.“
„Welche Prüfung?“
„Ob ich zum Küchenchef geeignet bin. Du weist ja, dass das Hotel meiner Tante zu einer Hotelkette gehört und du hast wahrscheinlich auch gehört, dass ich das Hotel irgendwann einmal übernehmen soll. Dafür muss ich mich allerdings vorerst bewähren und meiner Tante zeigen, dass ich es ernst meine. Sie möchte mich als Küchenchef sehen und ich würde nichts lieber tun als das, doch dafür muss ich so ´ne Art Prüfung ablegen und ein Essen vorbereiten, dass von den sogenannten Managern der Hotelkette abgenommen werden muss.“
„Dafür muss du echt eine Prüfung ablegen?“
„Ja. Ich muss ein ganz besonderes Menü kochen und es wird dann von diesen Leuten bewertet.“
„Machst du dir deswegen Sorgen? Ich meine, du bist ein guter Koch, das schaffst du doch mit links.“
„Ja, ich weiß, dass ich das kann. Trotzdem mache ich mir auch so meine Gedanken. Was ist, wenn ich versage? Ich liebe es zu kochen und ich möchte nichts anderes tun als das. Deswegen möchte ich gerne, dass wir uns vorerst bedeckt halten, bis die Prüfung ausgestanden ist.“
„Einverstanden, es bleibt also unser Geheimnis.“
„Danke“, sagte Henry lächelnd und gab ihr einen zärtlichen Kuss, den Tina sofort erwiderte. Sie verstand Henry und vielleicht war es so auch am besten, sie hoffte nur, dass es nicht allzu schwer werden würde ihr Versteckspiel aufrecht zu erhalten.
Nachdem Tina und Henry von Bord gegangen waren, fuhr Henry sie nach Hause. Eine ganze Weile saßen sie noch im Auto und konnten sich schwer voneinander lösen, doch Henry musste nach Hause. Sie gaben sich noch einen langen Kuss und verabredeten sich für den nächsten Tag nach ihrer Arbeit.
Als Tina am nächsten Tag gegen Mittag bei der Arbeit erschien war sie schon ein wenig nervös. Ihre Gefühle waren in Aufruhr. Aber sie fühlte sich fit und ausgeruht. Die letzte Nacht hatte sie den verlorenen Schlaf der letzten beiden Nächte nachgeholt. Sie hatte jedoch ein gemischtes Gefühl Henry wieder zu sehen. Zum einen freute sie sich auf ihn, doch zum anderen hoffte sie, dass es ihnen niemand ansah, dass sie gemeinsame Zeit verbracht hatten.
Tina betrat die Küche und band sich im Gehen ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Sie umarmte Mareike zur Begrüßung, wandte sich jedoch schnell wieder ab. Sie hasste es ihrer Freundin etwas zu verbergen. Mareike sah sie von der Seite an.
„Alles in Ordnung mit dir, Tina?“ Tina sah kurz zu ihr auf und sie fürchtete gleich rot zu werden.
„Ja, sicher“, sagte sie. Sie drehte sich abrupt um und prallte prompt gegen Henrys Brust. Henry hielt sie fest und für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke.
„Ups, entschuldige“, murmelte Tina verlegen.
„Nichts passiert. Hallo Tina“, sagte Henry und lächelte sie an.
Tina sah sich peinlich berührt um und bemerkte hinter Henrys Rücken Stefans eindringlichen Blick. Sie löste sich abrupt aus Henrys Armen und ging an ihren Arbeitsplatz.
Den restlichen Tag arbeitete sie Seite an Seite mit Henry und sie sprachen ganz normal miteinander. Tina hatte zwar das Gefühl, dass Henry sie ungewohnt oft, wie durch Zufall, immer wieder berührte. Die Berührungen waren zwar kaum sichtbar, doch für Tina ein sicheres Zeichen, dass noch alles wie am Tag zuvor zwischen ihnen war. Stefan konnte also überhaupt nichts von alldem mitbekommen und doch sah er ständig zu ihnen hinüber und fixierte Tina mit seinem Blick. Tina nahm sich vor, nach Feierabend mit ihm darüber zu reden. Sie und Stefan waren gut befreundet und sie hatte das Gefühl ihn irgendwie verärgert zu haben.
Doch Stefan war sofort nach Feierabend zur Tür hinausgestürmt mit der Entschuldigung noch etwas Wichtiges vorzuhaben. Tina und Mareike räumten noch die restlichen Sachen auf. Tina hatte es heute nicht eilig, noch den Bus zu erwischen. Sie war mit Henry verabredet und wollte nicht, dass jemand mitbekam, wie sie in sein Zimmer schlüpfte. Tina war nur noch nicht klar, wie sie es fertig bringen sollte, Mareike los zu werden. Die beiden fuhren oft gemeinsam mit dem Bus nach Hause und an manchen Tagen, wenn Mareike ein Auto hatte, brachte sie Tina mit dem Auto nach Hause.
„Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte Mareike sie dann auch schließlich.
„Äh…nein, ich… äh“, stotterte Tina
„Äh?“
„Hab noch war vor.“
„Ach und was?“ Mareike war sichtlich erstaunt. Tina ärgerte sich, dass sie sich nicht schon vorher eine Ausrede überlegt hatte. Also sagte sie das Beste, was ihr auf die Schnelle einfiel.
„Ich treffe mich noch mit Merle.“
„Mit der Freundin deines Bruders? Im Ernst?“
Tina hätte klar sein sollen, dass das eine ganz dumme Ausrede war. Sie hatte sich noch nie mit der Freundin ihres Bruders allein getroffen und Mareike wusste genau, dass sich ihr Bruder zur Zeit im Ausland aufhielt.
„Ja, warum nicht?“, sagte sie trotzig.
„Du magst Merle nicht“, stellte Mareike trocken fest.
„Da stimmt überhaupt nicht. Ich mag sie schon. Wir haben nur nicht viel gemeinsam. Aber sie erwartet schließlich ein Kind von Christian, also wird sie vermutlich so etwas wie meine Schwägerin werden. Also dachte ich, es wäre nicht schlecht, sie besser kennen zu lernen, jetzt wo Christian nicht da ist.“
„Na, wenn du meinst, dann bis morgen“, verabschiedete Mareike sich von Tina und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Nachdem Mareike den Raum verlassen hatte, schloss Tina für einen Augenblick die Augen. Mareike glaubte ihr kein Wort. Tina war eine denkbar schlechte Lügnerin, auch wenn an ihren Worten etwas Wahres dran gewesen war. Sie hatte sich tatsächlich vorgenommen die Freundin ihres Bruders besser kennen zu lernen, doch ganz gewiss nicht heute Abend.
Zehn Minuten später klopfte Tina an Henrys Zimmertür. Die Zimmertür öffnete sich einen Spalt und im selben Moment wurde sie ins Zimmer gezogen. Henrys schloss die Tür, drückte Tina mit seinem Körper dagegen und umschloss ihre Lippen mit den seinen.
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