„Wie meinen Sie das?“
„Hölle und Himmel, meine ich!“
„Also grundsätzlich sehen wir das so: Eine Hölle ohne den Nachweis in der Hölle darbender Sünder wäre keine Hölle; gäbe es keine Hölle, gäbe es keinen Himmel. Gäbe es keinen Himmel, dann...“.
„Hören Sie auf“, unterbrach ich sie, “Sie zerstören mein Weltbild“.
Die coole Blondine nahm ihr Handy, wählte eine Nummer und blaffte in den Apparat:“ Ich hab den Seele hier. Der hat noch ein Weltbild. Wie treiben wir ihm das aus? ... Quälen?“
Die Antwort schien die Dame zu beruhigen: “OK, verstehe. Alles klar!“
Ich setzte meine Sonnenbrille auf und schaute die coole Blondine cool an: „Haben Sie heute Abend schon etwas vor...Ich kenn da ein nettes...?“
Ich unterbrach den Flirt wegen noch unvollständiger Kenntnisse der Örtlichkeiten.
„Wollten Sie mit mir flirten?“
„Ja. Nennt man das hier auch so?“
„Ja, aber machen Sie sich keine Hoffnung. Es gibt hier keine Beziehungen zwischen Frau und Mann“.
„Das ist ja die Hölle!“
„Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht“.
Wir schauten uns desinteressiert an.
Nach einiger Zeit nahm sie das Gespräch wieder auf:
„Ich muss Ihnen ein Getränk verabreichen, damit sie wieder auf die Beine kommen. Wir brauchen Sie noch, wie gesagt“.
Ich schluckte das Höllengebräu mit Todesverachtung runter und bat um einen Pastis zum Nachspülen, denn das sei mein Lieblingsaperitiv. Und schlug vor, dass wir dann etwas essen gehen sollten“.
Die coole Blondine erwiderte, dass sie sehr betrübt sei, da ich noch so etwas wie Appetit und Durst spürte. Das sei eigentlich nicht mehr üblich in der Hölle.
Ich fragte darauf, wovon die Leute denn hier lebten, worauf sie erwiderte, dass hier eigentlich keiner mehr lebe.
Ich schluckte: „Wie geht’s jetzt weiter?“
„Ich muss Ihnen einen Platz bei uns zuweisen. Da Sie noch ein Weltbild haben, müssen wir Sie quälen, bis es verschwindet. Es sieht nicht gut aus für Sie!“
„Wie jetzt?“
Beim Empfang wurden Sie gefragt, welche Arbeit Sie nie machen wollten und ihre Antwort war Buchhaltung“.
Ein mittelschwerer Schweißausbruch quälte mich. Buchhaltung. Buchhaltung in der Hölle.
Die Hölle in der Hölle. Aber sollte ich nicht dankbar sein, überhaupt Arbeit zu haben?
Nach einigen Stündchen geleitet mich die Managing Directorin, die vorgab, noch anderen Verpflichtungen nachgehen zu müssen, zu meiner Dienststelle in der Buchhaltung der Hölle.
Eine coole Blondine wies mich ein, indem sie mir eröffnete, dass es bisher keine Buchhaltung in der Hölle gegeben habe, niemand sei bisher auf eine solche Idee gekommen, und dass ich völlige Freiheit hätte, was die Systematik und das Ablagesystem zum Beispiel anginge und dass ich ein Büro für mich allein hätte.
Ich rückte zitternd und einigermaßen ängstlich an meiner Sonnenbrille und fragte, ob es tendenziell zumindest einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebe.
Die vierte coole Blondine, die ich in der Hölle kennen gelernt hatte, erwiderte freundlich, dass in der Hölle tendenziell alles möglich sei.
Hier unterbrach mich meine Frau bei der Abfassung der Erzählung.
„Jetzt hör mal auf mit dieser Geschichte. Ich ahne die Pointe. Du wirst in der Hölle verrückt, weil dich die Buchhaltung irre macht. Buchhaltung in der Hölle. Darauf muss man kommen!“
Ich staunte und das Letzte, das ich bei klarem Bewusstsein hörte, war:
„Schatz, stell jetzt lieber mal die gelben Säcke an die Straße...morgen ist Abfuhr... und vergiss nicht, mal wieder Ablage zu machen!“
Eine Frage muss hier mal gestellt werden: Wie behandelt die Menschheit eigentlich das Kostbarste, das sie besitzt...nach dem Gold natürlich, nämlich die Kakaotasse meines achtjährigen Sohnes Tim? Die Antwort muss hier auch mal gegeben werden: Miserabel! Unbarmherzig!
Die Geschichte, die mein Urteil begründet, fing eigentlich ganz undramatisch an:
Meine Frau und ich tauschten abends wie üblich die Erfahrungen unseres Arbeitstages aus, schimpften auf Vorgesetzte, auf Kollegen und Arbeitszeiten; dabei mag auch beiläufig das Wörtchen „Stress“ gefallen sein, bei Gott nichts Dramatisches und nichts Unübliches in dieser Welt. Und doch löste dieses Wort ein Verhängnis aus, an dessen Ende...nun, ich will hier nicht vorgreifen.
„Stress, Stress“, rief mein Sohn Tim abends dazwischen, „ihr kümmert euch immer nur um euren eigenen Stresse. Wer aber denkt an meine Kakaotasse? Die hat auch Stress!“
Ich war geneigt, dies als den mittlerweile üblichen Weltschmerz meines Sohnes vorsichtig zu überspielen, als dieser unnachgiebig und für die Abendstunde etwas unsensibel nachhakte.
Er wies auf einen Zeitungsartikel hin, in dem vom Stress des Geschirrs in der Spülmaschine zu lesen gewesen war.
Ich weiß nun nicht, ob es ein sinnvolles Ergebnis des deutschen Bildungssystems ist, dass Achtjährige bereits Zeitung lesen können; angesichts der Folgen, die ich nun zu berichten genötigt bin, rechne ich mich eher zu den Verfechtern eines gesunden Nichtwissens, das auf Lese- und Schreibuntüchtigkeit beruht.
Meine ältere Tochter Katharina unterstützte ihren kleinen Bruder: “Es geht ums Prinzip!“
Meine Frau Veronika beteuerte, diesen Artikel ebenfalls gelesen zu haben: Der Junge hat Recht! Das Geschirr leidet!“
In diesem Augenblick umarmte Tim seine Kakaotasse, führte sie an die Wange und begann mit ihr zu sprechen, indem er nach dem Befinden fragte.
Der Tasse ging es offensichtlich hundsmiserabel, denn sie verweigerte jede Antwort.
Mitfühlend, wie ich nun einmal bin, rückte ich an seine Seite und fragte behutsam, wie er das denn meine mit dem Stress.
„Kannst du dir vorstellen“, begann er, womit er gelegentlich seine Zweifel an meiner Vorstellungskraft überhaupt auszudrücken beliebt, „kannst du dir vorstellen, dass du bei 50 Grad im Schatten im Urwald bist?“
„Gott behüte!“
„Stell dir nun weiter vor, dass du von Kannibalen gefangen worden bist!“
Hier nun wollte ich den schärfer werdenden Dialog mit der Frage abbrechen, wo denn zu lesen sei, dass es Kannibalen gebe, doch Tim konterte gnadenlos:“ Robinson Crusoe!“
„Du liest Robinson Crusoe, Tim?“ frage ich aufmerksam.
„Nein, aber Großvater hat erzählt...!“
Mit meinem Vater wollte ich demnächst mal über Kindererziehung reden.
„Also gut. Ich stell mir vor, ich sei bei den Kannibalen im Urwald bei 50 Grad im Schatten. Was dann?“
„Und dann wirst du mit kochendem Wasser geduscht!“
Ich zitterte, riss mir die Krawatte auf, öffnete den Hemdkragen, krempelte die Hemdsärmel auf und spürte, dass mich mein Deo verließ.
„...und das eine Stunde lang!“ setzte Tim nach.
Ich stand auf und riss alle nahen Fenster auf.
„...und dann musst du vielleicht noch eine Stunde im heißen Dampf der Duschkabine warten, bis dich jemand raus lässt...!“
Ich entblößte mich, floh aus dem Haus und irrte nackend durchs Viertel auf der Suche nach einem Eisberg. Doch schrill verfolgten mich Tims Worte, dass ich mir so oder so ähnlich das Gefühl seiner Kakaotasse in der Spülmaschine vorstellen müsse.
Stunden später fand ich Tim friedlich im Bett schlafend mit seiner Kakaotasse im Arm.
Meine Frau glaubte mich kurz vor dem Schlafengehen mit dem Hinweis beruhigen zu können, dass wir das Thema gelegentlich noch einmal aufgreifen müssten.
Ich war nicht zu beruhigen.
„Veronika“, redete ich erregt auf meine Frau ein, „ich habe Tim immer zum Mitgefühl gegenüber der gequälten Kreatur angehalten aber nicht gegenüber dem gequälten Eierbecher!“
„Beruhige dich doch, Schatz!“
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