„Ja, im Golf GTI.“
Wir waren mit dem zweiten Anstrich noch nicht fertig, und ich hatte keine Lust mehr. Meine Mutter stand in der Haustür und sagte laut, noch nicht rufend, daß der Kuchen jetzt aus dem Ofen wäre, daß er noch etwas auskühlen müsse. Wir hätten also durchaus noch eine Chance, früher fertig zu sein.
Trotz fehlender Lust beeilten uns auch etwas. Die Aussicht auf frischen Kaffee und frischen Käsekuchen trieb uns vermutlich an. Mir ging es nicht darum, den von meiner Mutter ausgerufenen Wettbewerb zu gewinnen. Meinem Vater traute ich solchen Ehrgeiz schon eher zu.
Wir waren mit dem dritten Anstrich fast durch, im Eimer war nur noch wenig Farbe, als ein kleiner Junge, vielleicht vier bis fünf Jahre alt, vor mir stehenblieb.
„Bist du der Sohn aus der Stadt?“
„Ja, ich bin Morten. Und wer bist du?“
Der Junge rannte weg, zu einem Erwachsenen, der älter als ich wirkte, es aber, wie sich kurz darauf rausstellen sollte, nicht war. Der Junge rief noch im Laufen: „Papa, Papa, er ist es, er ist es wirklich. Ich habe gefragt.“
„Ups, was war das? Ist jemand, der den Ort verläßt eine Sensation? Oder ein Affe im Zoo? Oder etwas in der Art?“
„Nein. Das war der Sohn der Tochter des Briefträgers. Du erinnerst dich?“
„Ich denke schon.“ Ich hoffte, nicht rot zu werden. Und ich fragte mich, was mein Vater über mich und die Tochter des Briefträgers wußte. Ich wollte keine Pause entstehen lassen und fragte deshalb irgendwas. „Und wer war der Kerl?“
„Das ist ihr Mann. Der kommt aus irgendeinem der Täler, aus welchem, habe ich vergessen, aber ihr müßtet zusammen zur Schule gegangen sein.“
„Das mag sein, aber dann habe ich es verdrängt.“
Wir packten ein. Mein Vater warf die Pinsel in den Eimer und drückte den Deckel drauf.
„Nicht aufheben?“
„Nein, wenn ich alles aufheben würde, was man irgendwann noch mal gebrauchen könnte, dann würde es im Haus so aussehen wie in der Garage.“
Ich nahm den Eimer und ging in Richtung Garage, um ihn im Hof in die Mülltonne zu werfen. „Du mußt jetzt nicht reingucken, das reinste Chaos.“
„Hatte ich nicht vor.“
Als ich zurückkam, unterhielt sich mein Vater mit einer Frau, jünger als die anderen, älter als ich. Sie kam mir aber irgendwie bekannt vor.
„Hallo“, sagte ich, sie nickte nur und sprach weiter mit meinem Vater. Ich suchte die Zeitungen zusammen.
„Wie war es denn im Urlaub?“
„Schön, es war wirklich schön. Wir hatten auch richtig Glück mit den Wetter.“
„Hier war es ja nicht so toll.“
„Ja, das haben wir schon gehört.“
„War ihr Sohn auch mit?“
Mein Vater guckte zu mir. „Nein, nein, das würden wir uns nicht antun. Wir waren hauptsächlich in Schweden, haben einen Abstecher nach Norwegen gemacht und auf dem Rückweg kurz einen Zwischenstop in Dänemark, fast nur Landschaft und kaum Städte. Da würde er“, er deutete auf mich, „sich nur langweilen.“
„Ach, ich dachte, sie wollten nach Skandinavien.“
Ich beeilte mich, mit den alten Zeitungen zur Mülltonne zu kommen, wollte das Fremdschämen vermeiden.
„Ja, ja, in Skandinavien waren wir auch“, hörte ich meinen Vater die Situation retten.
Ich stopfte das Papier in die Tonne und mußte erst einmal tief Luft holen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen. Als ich zurückkam, war die Frau schon gegangen.
„Wer war denn das?“
„Die Frau mit den hervorragenden Geometriekenntnissen?“
Jetzt mußten wir doch lachen, und ich hoffte, sie würde uns nicht hören. Und ich schämte mich, aber nicht für die Frau, sondern unserer Gemeinheit, unserer Überheblichkeit, aber nur etwas.
„Das war die viel jüngere Schwester des Briefträgers.“
„Was muß die auch von Geologie verstehen.“ Ich erinnerte mich daran, daß da eine nur unwesentlich ältere Tante..., aber ich wollte ja nicht rot werden.
Meine Mutter stand wieder in der Tür. „Was gibt’s denn zu lachen?“
„Ihr wart in Schweden im Urlaub, aber auch in Skandinavien.“
„Ja und in Europa auch. Wo ist der Witz?“, fragte meine Mutter.
„Ich glaube, den habe ich gerade verbockt.“
„Also der Kuchen ist fertig, schon seit einiger Zeit in Eßtemperatur. Habe ich gewonnen?“
„Einigen wir uns auf ein Unentschieden?“
„Da hat sich nichts geändert“, hatte die Frau gesagt. Das sollte wohl soviel heißen wie „da wurde nichts gemacht“. Der Zahn der Zeit nagte an dieser langen Baracke auch nicht langsamer als an anderen Dingen, so wie es aussah vielleicht sogar schneller. Oder fehlten mir damals einfach nur die Vergleichsmöglichkeiten, um zu erkennen, daß das Ganze auch da schon ziemlich erbärmlich war? Das Gebäude fiel nicht zusammen oder eindeutig in die Kategorie Schuppen, es wirkte nur, als hätte man es aus all den Teilen zusammen geschustert, die bei anderen Bauvorhaben übrig geblieben waren. Selbst der PVC-Boden war nicht aus einem Stück, noch nicht einmal von einer Qualität oder mit einem einheitlichen Muster verziert . Und mit Hippietum hatte dieses Patchwork überhaupt nichts zu tun. An einer Wand hingen die Bilder von Schützenkönigen vieler vergangener Jahre und auf dem Bilderrahmen klebte nicht selten das Logo einer Partei oder einer Firma, die es sich leisten konnte und wollte, den Schützenkönig zu stellen. Das Ausrichten der Siegerfeier war nie ganz billig gewesen.
Ein Typ in meinem Alter kam mit einer Kiste Cola aus einem hinteren Raum.
„Die Hälfte von denen ist schon tot.“
„Hallo.“
„Hi. Und die andere Hälfte braucht auch nicht mehr lange. Langsam wird es mal wieder Zeit für einen jungen Schützenkönig.“
„Und wer hat Chancen?“
„Der alte Myller und der alte Menty haben sich in den letzten Jahren immer mal wieder die Krone hin- und hergereicht, aber die wollen wohl nicht mehr. Ist auch besser so. Aber es wird wohl in der Familie bleiben. Einer der Söhne wird’s wohl machen. Tom ist der bessere Schütze, aber ich denke, der wird aus Versehen einen der letzten Schüsse verreißen, damit es Bernd wird.“
„Gibt es sonst keine guten Schützen?“
„Hier? Nein. Jedenfalls nicht im Verein. Das sind die einzigen Jungen, die das noch von ihrem Vater haben. Ansonsten gehen doch alle weg oder machen andere Sachen, Gameboy oder Autorennen oder was weiß ich. Hasch und Discos kennt die Dorfjugend ja auch. Fußball“, er zeigt Richtung Sportplatz, „geht noch ganz gut, aber schon die Feuerwehr hat kaum noch Nachwuchs. Morten, oder?“
„Ja, stimmt.“
„Hab dich gleich erkannt.“
„Tschuldige, aber...“, ich hatte ihn nicht erkannt.
„Ach, macht nichts. Ingo. Du kannst dich bestimmt nicht mehr an mich erinnern.“
„Ja, da hast du leider Recht.“
„Besuchst du deine Eltern?“
„Ja. Und irgendwie holen mich ein paar alte Geschichten wieder ein. Mein Vater und ich haben vorhin den Zaun gestrichen und da kamen ein paar Leute und Erinnerungen vorbei...“
„Ja, selbst wenn man in die große Stadt geht, irgendwie ist man doch immer noch ein kleines bißchen hier zuhause.“
Ich drückte den Zeigefinger fest auf den Daumen und sagte „Aber nur so viel.“
„Verstehe. Ich bin hier nie weggekommen. Werde es auch nie. Ich hatte das mal überlegt, weil man in der Stadt doch mehr Freiheiten hat, aber ich bin auch irgendwie ein Kleinstädter. Und du?“
„Ich würde es hier nicht mehr aushalten. In den ersten ein, zwei Jahren bin ich noch recht häufig gekommen, aber dann hat das auch nachgelassen. Selten besuche ich meine Eltern und dann auch wirklich nur sie, nie das Dorf. Mir gibt das nichts mehr.“
„Du warst damals schon anders.“
„Du kannst dich an mich erinnern?“
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