Ein Duft von Weihnachten lag in der Luft. Frisch gebackene Kekse waren ordentlich auf dem Backblech verteilt und versprühten einen süßlichen und zimtigen Geruch in der ganzen Küche. Um das Blech herum war ein Chaos aus Zutaten, Stechformen und Gefäßen, in denen Teigreste klebten. Es war das letzte Blech mit Keksen, das sie gemacht hatten. Die anderen Plätzchen ruhten bereits sorgfältig gestapelt in den weihnachtlich verzierten Dosen und in einer angerichteten flachen Schale auf dem Wohnzimmertisch.
Während Judith eine der zahlreichen Schüsseln unter dem Wasserhahn vom Teig befreite, räumte Anton bereits alles andere in die Spülmaschine ein. Aus einem alten Rekorder erklang weihnachtliche Musik von einer Kassette und an den geschlossenen Fenstern haftete ein feuchter Dunst, der den Blick auf den verschneiten Hinterhof verbarg. Vor dem Fenster stand eine halbrunde Weihnachtsdekoration aus Holz, in der elektrische Kerzen in einer Reihe angebracht waren. Judith reichte ihrem Mann wortlos die vorgereinigte Schüssel und wandte sich der nächsten zu, während Anton in der fast bis oben gefüllten Maschine einen Platz dafür suchte.
Jedes Jahr machte es Familie Waidmann auf die gleiche Art: Alle zusammen standen sie stundenlang am Tag vor Weihnachten in der Küche und backten gemeinsam Kekse. Und sobald die Kekse gebacken waren, hatten sich die Kinder Robin und Natascha bereits in ihre Zimmer verkrümelt, um der Aufräumarbeit zu entfliehen.
Gerade hatte Judith die zweite Schüssel fertig vorgespült und wollte sich den nächsten zwei Rührschüsseln widmen, die ihr Mann Anton ihr neben die Spüle gelegt hatte, da klingelte das Telefon. Die beiden sahen einander stutzig an. „Wer könnte das sein?“, fragte Judith nachdenklich.
„Hoffentlich ist es nicht deine Mutter, die irgendwo abgeholt werden will!“, meinte Anton mürrisch, denn er wollte bei dem verschneiten Wetter lieber nicht Autofahren müssen. Er ging nach nebenan ins Wohnzimmer, um das drahtlose Telefon abzunehmen.
Diese Worte konnte Judith nur allzu gut verstehen. Ihre Mutter Greta sagte jedes Jahr kurz vor Weihnachten, sie sollten sich nicht um sie bemühen. Sie würde pünktlich auf der Matte stehen! Nicht selten rief sie an, wenige Stunden vor dem Zeitpunkt, zu dem sie sich angekündigt hatte. Und sie musste dann doch abgeholt werden.
Anton kehrte mit dem Hörer in der Hand und an sein Ohr gedrückt in die Küche zurück. Er lauschte angestrengt und nachdenkend dem Anrufer, warf seiner Frau jedoch einen entwarnenden Blick zu. Es war also nicht Greta am Telefon.
Anton schnappte sich einen Lappen und begann, mit der freien Hand über den schmutzigen Tisch zu wischen. Judith wandte sich der letzten Schüssel zu und schnappte einige Worte ihres Mannes auf, um zu erahnen, wer der Anrufer sein könnte.
„Ist es denn so schlimm?“, fragte der hochgewachsene Mann.
Judith kannte die Stimmlage Antons und wusste gleich, wer am Telefon sein musste. Und obwohl es Judith für ungewöhnlich hielt, dass am Vorweihnachtstag ein Anruf von dort kam, ließ sie ihr besinnliches Gemüt nicht mit Sorge oder Ärger betrüben.
Anton nahm den Hörer vom Ohr, drückte den roten Knopf, um das Telefonat zu beenden, und legte das Gerät auf der Anrichte ab.
„War es die Praxis?“, fragte ihn Judith.
„Ja“, antwortete Anton und strich nachdenklich mit der Hand über den schwarzhaarigen Kopf, ehe er anfügte: „Der Terrier schnauft ungewöhnlich laut und heftig. Du weißt doch noch. Ich hab dir gestern Abend von ihm erzählt.“
Judith überlegte. „Du meinst den Kleinen, den sie auf der Müllhalde gefunden haben?“, fragte sie, als die Erinnerung an die traurige Geschichte des Vorabends in ihr Gedächtnis zurückkehrte.
„Ja, genau“, entgegnete Anton, „Ich muss noch mal in die Praxis und nach ihm sehen. Er kann so nicht über Weihnachten allein bleiben. Und Annika weiß nicht, was mit ihm ist.“
Judith hielt inne und drehte sich ihrem Mann zu. „Wird Annika denn die ganze Zeit in der Praxis bleiben?“, fragte sie besorgt, denn sie wusste, dass Annika, die Arzthelferin in der Tierarztpraxis ihres Mannes, keine Familie mehr hatte und Weihnachten meistens allein verbrachte. Judith mochte das nicht. Die Vorstellung, dass ein so liebenswerter Mensch wie Annika an Weihnachten allein war, betrübte sie.
„Mach dir keine Sorgen, Schatz“, sagte Anton tröstend, „Sie sagte, sie würde Weihnachten dieses Jahr mit ihrem Freund verbringen.“
„Sie hat einen Freund?“, fragte Judith neugierig, denn obwohl sie nicht eng befreundet waren, konnte sie sich nicht dagegen wehren, eine mütterliche Sorge für Annika zu verspüren.
Anton nahm grinsend das Telefon und ging auf Judith zu, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Davon erzähle ich dir später“, flüsterte er ihr ins Ohr und legte eine Hand um ihre Hüfte.
Judith erwiderte die zärtliche Umarmung. „Wie lange wird es dauern?“, fragte sie.
Anton ließ nachdenklich ab von seiner Frau. Lächelnd meinte er: „Ein paar Stunden könnten es schon werden.“
Judith wandte sich der Schüssel wieder zu. Sie wusste, die Arbeit als Veterinär war ihrem Mann sehr wichtig. Er hatte schon damals auf der Uni davon geträumt, eine eigene Praxis zu eröffnen und dort mit Spendengeldern auch Streunern wie diesem kleinen Terrier helfen zu können. „Kannst du auf dem Rückweg deine Eltern abholen?“, fragte Judith, als ihr einfiel, dass ihre Schwiegereltern zurzeit Probleme mit dem Auto hatten.
„Sicher!“, meinte Anton und wandte sich zum Gehen, doch da fiel Judith noch etwas ein: „Hast du gemerkt, dass sich Natascha die ganze Zeit in ihrem Zimmer aufgehalten hat? Sie ist sonst nicht zu bremsen, wenn wir Kekse backen. Sie liebt es!“
Der schwarzhaarige Mann drehte sich ernst seiner Frau zu. „Es ist mir aufgefallen“, erwiderte Anton, „Sie ist fünfzehn. Vielleicht ist es die Zeit, in der sie andere Dinge als Familie im Kopf hat?“, fügte er an, weil es die einzige Erklärung war, die er für das ungewöhnliche Verhalten seiner Tochter gefunden hatte.
Judith streifte die nassen Hände an einem Handtuch ab. „Schon“, begann sie, „aber Natascha liebt Weihnachten. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, aber sie will nicht mit mir darüber reden. Sie hat sich zurückgezogen.“
Anton überlegte. Was seine Frau sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Seine Tochter liebte Weihnachten. Selbst in dem Jahr, als der alte Familienhund Buddler kurz vor Weihnachten gestorben war, hatte sie sich nicht die Stimmung verderben lassen. Im Gegenteil: Das Fest hatte ihr über den Verlust des Hundes hinweggeholfen.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Anton schließlich, „Ich kann versuchen mit ihr zu sprechen, aber du weißt ja, ich habe da wenig Talent.“
Judith lächelte und ging auf Anton zu, der in der Tür zum Wohnzimmer stand. Sie legte liebevoll eine Hand auf seine Wange und meinte: „Du bist ein guter Vater. Versuche es!“
Anton erwiderte das Lächeln seiner Frau, obwohl er genau wusste, dass er bereits lange über das Verhalten Nataschas nachgedacht hatte und noch immer unsicher war, wie ein guter Vater mit dieser neuen Situation umgehen würde.
Er ging ins Wohnzimmer. Das Telefon stellte er zurück in die Ladestation, ehe er über den breiten, dumpf beleuchteten Flur die dunkle Holztreppe hinaufstieg und zum Zimmer seiner Tochter ging. Er hielt einen Moment inne, klopfte dann und öffnete, ohne auf Antwort zu warten, die Tür.
Natascha drehte sich zu ihm um, mied aber mit einem halbherzigen Lächeln den analysierenden Blick ihres Vaters. Sie hatte vor dem großen Stehspiegel gestanden und sich mit hochgezogenem Pullover von der Seite betrachtet, als die Tür aufging. Jetzt zog sie nervös ihren Pullover zurecht und nahm eine Haltung ein, die Unwohlsein suggerierte.
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