Judith sah ihn lächelnd an. „Gut gemacht, mein Junge“, entgegnete sie, „Du kannst jetzt mit Quaki rausgehen.“
Robins Augen leuchteten vor Freude. „Super!“, rief er und wandte sich dem Hund zu, der erwartungsvoll in seinem Körbchen lag und sich aufsetzte, als er die vertrauten Worte hörte: „Komm, Quaki! Wir gehen raus!“
„Bleibt aber nicht zu lange! Oma Greta wird bald da sein!“, rief Judith dem Jungen hinterher, der zügig mit dem bellenden Hund in den Flur gerannt war und hastig seine warme Kleidung anzog. „Ja, ist gut!“, rief der Junge noch, ehe Judith die Tür zufallen hörte.
Sie war allein im Wohnzimmer und sah sich noch einmal gründlich um. Der Tisch sah perfekt aus, die Gierladen hingen an den Haken, die Anton nach ihrem Einzug in das Haus am ersten Weihnachtsfest angebracht hatte, und der Weihnachtsbaum stand prächtig in seiner gewohnten Ecke und leuchtete und glitzerte. Sie wusste, dass Robin seine Aufgabe gut gemacht hatte. Trotzdem ging sie zum Baum hin und schaute sich alles mit weihnachtlicher Vorfreude an. Sie bemerkte gleich, dass Robin die Geschenke unterm Baum versehentlich verschoben hatte. Selbst dafür hatte Oma Irmgard Vorschriften! Seufzend ging Judith in die Hocke, um die Geschenke zurechtzurücken. Die Roten zu den Roten, die Grünen zu den Grünen, und andersfarbiges Geschenkpapier war nicht erlaubt. Ordentlich aneinandergelehnt und die größten am Stamm, die kleinsten ganz vorn, so war es richtig!
Spöttisch lachend nahm Judith ein wenig Dreck vom beigefarbenen Teppich auf, dessen Ecke unmittelbar vor dem Baum lag. Es war ein kleiner trockener Erdklumpen, den vermutlich Quaki ins Haus getragen hatte. Sie erhob sich und indem sie das tat, streifte sie einen Zweig des Baumes, von dem eine Christbaumkugel sich löste. Judith bemerkte, dass die rote Kugel fallen würde und griff eilig danach, um sie zu fangen. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel gegen den Baum.
Von Wichteln und Grichteln
Ein Schwindel zog durch den Kopf und pochend kämpfte ihr Bewusstsein ums Erwachen. Die Lider öffnend lag der angestrengte Leib da und ein Schmerz drang in die Augen ein. Judith stöhnte. Sie hielt eine Hand flach auf der Stirn, während die andere versuchte, den Oberkörper stützend aufzurichten. Bald saß sie auf dem rauen, unebenen Grund, von dem ein harziger Geruch aufstieg. Mit verschwommener Sicht blickte sie auf ein freundliches mattes Lampenlichtgelb, vor dem ein dunkles Grün zu erkennen war.
Ein erneutes Pochen im Kopf zwang sie, den Körper vorzubeugen und das Haupt mit beiden Händen festzuhalten, bis der Schmerz endgültig abebbte.
Nun konnte sie die Tannennadeln erkennen, die vor ihren Augen in den von Lampen erleuchteten Raum hineinragten. Vertraut war ihr der Anblick des Zimmers, doch gleichsam war er anders als gewohnt. Judith senkte die Arme. Sie blickte zur Seite und erkannte ein Wirrwarr aus Ästen und Tannennadeln, zwischen dem sich dicke Kabel der Lichterkette wanden und gelegentlich das Rot und Grün der Christbaumkugeln aufblitzte.
Die Christbaumkugeln!
Judith erinnerte sich an die rote Kugel, die sie auffangen wollte und sah zu ihren Händen hinab. Dort war sie nicht. Aber etwas anderes bemerkte sie, was sie von der Erinnerung ablenkte: Sie saß auf einem Ast des Weihnachtsbaumes! Erschrocken stand Judith auf, wobei sie kurz abzurutschen und die Tiefe zu stürzen drohte. Ihren Körper fangend musste sie feststellen, dass ihr Körper nicht größer war, als die Nussknackerfiguren, die am Baume hingen. In ihrer Benommenheit merkte sie erst jetzt, wie riesig die Figuren waren, die um sie herum am Baum hingen, und wie breit der Ast war, auf dem sie wankend stand.
Ein Schrei löste sich aus ihren verschreckten Lungen.
„Was schreist du denn so?“, rief eine grimmige Stimme hinter Judith, „Pass doch auf, damit die Menschen dich nicht hören!“
Judith drehte sich um und erkannte eine Gestalt, die mit beiden Armen um den Baumstamm geschlungen von diesem auf den Ast glitt, auf dem sich Judith befand. Er kam näher, sodass die erschrockene Frau ihn besser betrachten konnte. Er trug eine rote Zipfelmütze über einem dicknasigen und pausbäckigen Kopf mit dunklem Haar. Eine braune Weste trug er offen über einem grünen Pullover. Und eine braune Hose verdeckte die Blöße seiner Beine bis zu den sehr großen, schwarzen Schuhen. Als Judith den Blick wieder zu seinem Gesicht hob, erkannte sie einen überraschten Ausdruck darin.
„Wer bist du?“, fragte das Männchen im Baum.
„Ich…“, wollte Judith zögernd ansetzen, doch weiter kam sie nicht.
„Ach du heilige Weihnacht! Du bist ein Mensch!“, rief das Männchen erschrocken aus und hielt sich die Hände vor den Mund, ehe es sich sorgsam zu allen Seiten umschaute. „Hoffentlich hat das keiner gehört!“, murmelte er. „Du musst verschwinden!“, sagte er weiter und kam in Drohgebärde näher an Judith heran. „Verschwinden musst du!“, wiederholte er mit erhobenem Zeigefinger.
„Aber“, begann Judith zögerlich, „Wo bin ich denn überhaupt?“ Ihre Stimme bebte, während sie ihren Kopf und den Oberkörper nach hinten zog, um der unerwünschten Nähe des Zipfelmützenträgers zu entgehen.
„Wo du bist?“, fragte das Männchen überrascht und ging einen Schritt zurück. „Du bist im Weihnachtsbaum!“
„Im Baum? Wie kann das sein? Wie komme ich denn hierher und…“, fragte Judith mit steigendem Puls.
Nun fiel dem Männchen auf, dass die rote Kugel nicht da hing, wo sie hängen sollte. Er schob Judith achtlos beiseite und ging weiter am Ast nach vorn, um nach der Kugel zu sehen.
Judith sah ihm nach und erkannte hinter ihm die Riesenhaftigkeit des vertrauten Wohnzimmers. „Wer bist du?“, fragte Judith das Männchen nach einer Weile, als sie sich von ihrer Verwirrtheit etwas gefangen hatte.
Er drehte sich zu ihr um und musterte sie nachdenklich. „Hast du die Kugel berührt?“, fragte das Männchen.
„Sie ist gefallen und ich auch“, antwortete Judith schlicht und versuchte, ihre verwirrten Gedanken zu sortieren.
„So ein Mist!“, rief das Männchen aus und schob sich erneut an Judith vorbei hin zum Stamm des Weihnachtsbaumes. „Wir sind uns nie begegnet!“, sprach er und rutschte behände am Stamm hinab.
„Warte!“, rief ihm Judith nach, doch er war schon verschwunden. Sie folgte ihm zum Baumstamm und blickte in die Tiefe hinab. Wenige Bewegungen und rote Zipfelmützen konnte sie weit unten erkennen. Sie war keine Turnerin und obwohl sie als Kind oft auf Bäume geklettert war, fiel es ihr schwer, dem Zipfelmützenmännchen zu folgen. Langsam, abwägend kletterte sie am Stamm von Ast zu Ast hinab und erkannte überall mehr und mehr Männchen mit roten Zipfelmützen, die allesamt erschrocken innehielten, in dem, was sie taten, und die sonderbare Menschengestalt betrachteten. Tuscheln und Gemurmel brach unter ihnen aus, keiner machte seine Arbeit. Judith waren die Blicke unangenehm, doch sie bemühte sich, sie nicht zu beachten und nach dem einen Männchen von vorhin Ausschau zu halten.
Endlich hatte sie den Boden unter dem Baum erreicht, der ein Haltekasten aus Beton und Kieselsteinen war und den Baum aufrecht stehend hielt. Eisenstäbe führten von den Ecken des Kastens zur Mitte und zum Baumstamm hin und umwanden diesen mit einem Ring aus dunklem Eisen. Unter den Streben war der schmutzige Innenraum des Kastens, in dem Judith ein Loch in der Kastenwand entdeckte. Sie kletterte an einer Strickleiter hinab, die an einer Strebe befestigt war, und schlüpfte durch das Loch hindurch.
Weitere Männchen tummelten sich hinter dem Kasten auf dem hellen Holzdielenboden im Schatten des Baumes. Erst als Judith einen ersten Schritt nach vorn gemacht hatte, entdeckten die Männchen die Frau und erschraken.
Ein Tumult brach los, laut und kreischend, wirr und hektisch. Die Männchen liefen durcheinander und riefen: „Ein Mensch! Ein Mensch!“ - „Ruft Hamlin! Ruft ihn her!“ - „Versteckt die Kinder!“ - „Lauft um euer Leben!“ - „Hat sie uns gesehen?“ - „Sie hat uns gesehen!“
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