Der Alte wandte sich Hamrog mit scharfem Blick wieder zu und verharrte damit einen Augenblick lang auf dem mürrischen Wichtel. „Bleib bei Judith, bis wir eine Lösung gefunden haben!“, sagte er kurz und knapp und ging dann einfach fort.
„Na, toll!“, erwiderte Hamrog und sah missmutig zu Judith, die ihrerseits Faszination an dem sonderbaren Völkchen der Wichtel gefunden hatte. Sie kannte Wichtel nur aus Weihnachtsgeschichten und hatte bisher immer geglaubt, sie seien ein Mythos oder Märchenwesen, die nicht wirklich existierten.
Ehe Hamlin in der teetassengroßen Tür in der Wand verschwunden war, wandte er sich noch einmal zu den beiden um und rief: „Räumt am besten zuerst die gefallene Kugel fort, damit sich keiner daran verletzt! Die Grichtel werden sich über die glitzernden Scherben bestimmt freuen!“
Mürrisch und wortlos wandte sich Hamrog um und ging los. „Die Grichtel?“, fragte Judith neugierig, doch Hamrog reagierte nicht darauf.
Die geschrumpfte Frau folgte dem mürrischen Wichtel unter dem dunklen Baum und zwischen den Geschenken hindurch bis zu der Stelle, an der die rote Kugel auf dem Boden aufgekommen und tausend Stücke zerbrochen war.
Während Hamrog wortlos und grummelnd begann, die rot glitzernden Scherben aufzusammeln und in seinem braunen Sack zu verstauen, blickte Judith hinauf ins Wohnzimmer. Riesig groß wirkten die Geschenke und der niedrige Tisch war für sie so groß wie ein Haus. Die Sofas waren gigantisch, die Decke mit der grellen Lampe war so fern wie der Himmel und der Teppich war wie eine beigefarbene Wiese mit hoch wachsenden dicken Grashalmen. Einen leichten Schwindel spürte Judith, doch nachdem sie einen Moment reglos auf der Stelle verharrt hatte, versiegte der Taumel.
„Judith, hilf mit!“, rief der mürrische Wichtel und Judith folgte dem Ruf. Sie griff nach einigen Scherben und stopfte sie in den Sack.
Als sie weitere Scherben aufgesammelt hatte, hörte sie mit lautem Lärm eine heruntergedrückte Türklinke und eine sich öffnende Tür. Sie schaute auf und entdeckte Natascha, die in der Tür stand und ihren von Übelkeit geplagten Bauch mit einer Hand hielt, während ihr Blick vorsichtig durch den herrlich geschmückten Raum schweifte.
Hamrog erschrak, als er den schweifenden Blick des Mädchens bemerkte, und zog Judith am Arm hinter die Geschenke. Unruhig lugte der Wichtel hervor und spähte nach Natascha, um herauszufinden, ob er von ihr entdeckt wurde oder ob sie das Zimmer bald wieder verlassen würde.
„Kann sie uns sehen?“, fragte Judith mit leiser Stimme.
„Sie könnte!“, antwortete Hamrog, „Aber sie darf nicht! Der Kodex verbietet es! Wir müssen uns hinter den Geschenken versteckt halten. Es ist schlimm genug, dass du von uns weißt!“
Ein Bellen folgte, während Natascha die Tür zum Wohnzimmer ein Stück weit öffnete. Der Blick des Mädchens fiel zur Haustür und wartete geduldig darauf, dass sie geöffnet wurde.
Hamrog rümpfte indes seine Knollennase: „Dieser Köter schon wieder!“, meinte er mürrisch, „Sein Bellen erschrickt mich immerzu!“
Natascha war einen Schritt in den Flur hineingegangen, als sich die Haustür öffnete und Quaki ihr fröhlich entgegen lief. Sie begrüßte den Hund freudig. „Ist es sehr kalt draußen?“, fragte Natascha ihren kleinen Bruder, der herein kam, die Tür hinter sich schloss und sich den Schnee von den Schuhen klopfte.
„Ach“, meinte der Junge und zog die warmen Sachen aus, „Wenn man sich bewegt, ist es nicht kalt.“
Natascha spähte unruhig ins Wohnzimmer hinein. „Wo ist Mama?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht!“, antwortete Robin und ging an seiner Schwester vorbei ins Wohnzimmer, wohin ihm Quaki und Natascha folgten. Während sich der braunweiße Pitbull Terrier müde in sein Körbchen legte, setzte sich Natascha auf das Sofa.
„Ist Oma Greta schon da?“, fragte sie ihren Bruder.
„Ich glaube nicht“, meinte Robin, der sich zu seiner Schwester setzte.
Hamrog stieß Judith mit seinem Ellenbogen an, um ihr geräuschlos zu vermitteln, dass sie Arbeit zu tun hatten, und ging dann schleichend und schweigend aus dem Versteck. Nur wenige Scherben lagen noch verstreut, die der Wichtel und Judith rasch aufzusammeln begannen.
Natascha sah sich um im Raum, ohne das Treiben vor dem Baum zu bemerken, und beugte sich anschließend nach vorn zu ihrem Bruder. „Glaubst du, Mama und Papa ahnen etwas?“, fragte sie ihn flüsternd.
Judith horchte auf. Sie hob die Scherbe, nach der sie gerade gegriffen hatte, auf und packte sie vorsichtig zu denen, die sie im Arm trug. Ihren Körper wandte sie in die Richtung des Sofas, um ganz sicher nichts von der Unterhaltung zu verpassen.
Robin überlegte kurz. „Sie denken, dir ist schlecht!“, sagte er daraufhin.
„Du hast ihnen doch nichts verraten, oder, Robin?“, fragte Natascha mit Furcht in der Stimme.
„Natürlich nicht!“, beteuerte Robin mit leichtem Ärger darüber, dass sie das überhaupt fragte.
Judith konnte das Zittern in der Stimme ihrer Tochter deutlich hören. Sie trat wenige Schritte vor, um besser verstehen zu können, worüber ihre Kinder sprachen. Sie war umhüllt von Sorge.
„Geh nicht zu weit!“, flüsterte Hamrog und zog Judith zurück. „Sie sehen dich sonst.“ Der Wichtel öffnete den Sack, in den die Frau die Scherben fallen ließ, und spähte zu den Kindern auf dem Sofa. Er merkte sogleich, dass die beiden von dort aus nichts von der Aufräumarbeit mitbekommen konnten und war beruhigt. „Wir sind fast fertig“, flüsterte er dann, „Aber wir sollten uns schnell verstecken, sonst sehen sie uns doch noch!“
Hamrog sah sich hektisch um und sammelte eifrig die letzten zwei Scherben auf, doch Judith half ihm nicht. Sie stand weiterhin da und lauschte auf die Stimmen ihrer Kinder, die nach einer kurzen Pause weitersprachen.
„Weißt du schon, wie du es Papa sagen willst?“, fragte Robin, ohne den Blick zum Gesicht seiner traurigen Schwester zu drehen.
„Nein“, sagte sie seufzend. „Er war vorhin bei mir, aber… “, begann sie besorgt und mit Ängstlichkeit in der Stimme, doch ließ den Satz dann unbeendet.
Die Kinder wurden still.
„Natascha…“, murmelte Judith vor sich hin. Hamrog stand neben ihr, er hatte die Menschenfrau zum Verstecken ermahnen wollen, doch das Gespräch der Kinder hatte jetzt auch ihn berührt. Die sorgenvolle Frau sah zu Hamrog hin: „Ich wusste, sie hat ein Geheimnis. Aber warum hat sie Angst, mit Anton und mir darüber zu reden?“, fragte sie unsicher.
Hamrog erwiderte den fragenden Blick Judiths für einen Augenblick, wandte sich danach aber mürrisch ab: „Was kümmert es mich?“, fragte er kaltherzig, „Komm jetzt! Wir müssen die Scherben zu den nichtsnutzigen Grichteln bringen!“
Judith spähte über die Tischkante und zwischen den Dekorationen hindurch zu den Kindern, und konnte einen kurzen Blick auf ihre traurigen Gesichter werfen. Sie saßen beide mit betretenen Mienen da und schwiegen in eine unangenehme Stille hinein. „Was bedrückt dich nur?“, fragte sich Judith selbst, doch im Augenblick und auf diese Größe geschrumpft konnte sie nichts ausrichten und es sah so aus, als wollten die beiden das Gespräch nicht fortsetzen. So folgte sie Hamrog zurück unter den Baum und durch die teetassengroße Tür hindurch in die Wand des Hauses hinein. In einem Tunnel führte die Tür zu einer weiteren, die in den hoch eingezäunten Garten vor dem Haus mündete.
„Wo genau bringen wir die Scherben hin?“, fragte Judith neugierig, als die eisige Winterkälte sie empfing.
„Na, zu den Grichteln!“, antwortete Hamrog mit Selbstverständlichkeit.
„Du hast sie schon einmal erwähnt. Was sind Grichtel?“, fragte sie, obwohl viel eher die Frage in ihr wachte, wovor ihre Tochter sich derart fürchtete.
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