Und einen Augenblick später waren sie allesamt fort.
Judith stand allein da und war sprachlos. Sie sah sich nach allen Seiten um. Der Versuch, all das hier zu verstehen, brachte einen kleinen Kopfschmerz mit sich, während ihre ungewohnte geringe Größe nebst all den riesenhaft wirkenden Tannenzweigen einen Schwindel hervorrief. Was um alles in der Welt war bloß passiert? Sie wusste es nicht! Aber das Männchen von vorhin würde es womöglich wissen. Und nicht nur er, sondern alle diese zipfelmützigen Kreaturen könnten es wissen! Kurze Zeit später, als sie merkte, dass sie die Hilfe dieser Kreaturen brauchte, begann sie damit, ihnen nachzueilen. Hinter allen Ecken und im Kasten und in den Ästen des Baumes suchte sie nach ihnen, doch jeder, den sie entdeckte, huschte auf und davon und ward nicht mehr gesehen. Auch auf ihr Rufen wollte keiner hören.
Judith stand verschnaufend hinter dem Haltekasten in der Wohnzimmerecke. Was war nur geschehen? Und wie? Und warum flüchteten alle vor ihr?
Ein Knarzen war zu hören. Judith drehte sich dahin um.
Aus einer Tür in der Wand, die gerade mal so groß war wie eine Teetasse, kam ein Männchen. Erst bemerkte es Judith nicht und den Tumult hatte es offenbar auch nicht mitbekommen. Es zog einen braunen Sack hinter sich, der sich in einem Splitter des Fußbodens verfangen hatte und den es grummelnd zu befreien versuchte. Es hatte der Menschenfrau daher den Rücken zugewandt. Erst als sich das Männchen nach der erfolgreichen Befreiung des Sackes umdrehte und erschöpft mit dem Arm den Schweiß von der Stirn wischte, erkannte es die Frau, die heimlich näher gekommen war und jetzt unmittelbar vor ihm stand.
„Du bist es!“, rief Judith auf, als sie das pausbäckige Gesicht erkannte.
Das Männchen erschrak und sah sich zu allen Seiten um, so als ob es einen Fluchtweg suchte oder Ausschau hielt nach irgendwem, der die beiden dort stehen sah.
Überall lugten neugierige Zipfelmützen hinter den Ecken und aus den Verstecken hervor und lauschten.
„Sei doch still!“, flüsterte das Männchen. „Sie sollen nicht erfahren, dass wir uns kennen.“
Doch es war zu spät, denn die Männchen waren nicht dumm. „Hamrog!“, rief einer und trat vorsichtig aus seinem Versteck hervor, „Was hast du mit dem Menschen zu tun?“ Auch andere kamen vorsichtig hervor und näherten sich langsamen Schrittes. Bald schon fand sich Judith in einem Haufen aus roten Zipfelmützen.
Hamrog, das Männchen, dem Judith auf dem Ast nach dem Erwachen begegnet war, sah sich sorgenvoll und verängstigt um. Es war ihm unangenehm, dass die anderen Männchen ihn mit einem Menschen ertappt hatten. „Entschuldige, Hamrog!“, sprach Judith eine Entschuldigung aus, doch das erregte nur noch mehr Aufsehen.
„Sie kennt seinen Namen!“, rief ein Männchen, obwohl Judith den Namen gerade erst aufgeschnappt hatte, und schon ging ein wildes Tuscheln um. Hamrog sah Judith grimmig an. Gerade wollte er zu sprechen beginnen, als das Tuscheln leiser wurde und sich eine Schneise unter den Männchen bis hin zur teetassengroßen Tür in der Wand bildete. Ein Männchen schritt gemächlich auf Judith und Hamrog zu und sah sich dabei in der Menge um.
Vor Judith kam das Männchen mit dem langen weißen Bart zum Stehen. Es trug eine geschlossene rote Weste mit einem grünen Pullover und eine lange und kerzengerade aufrecht stehende rote Zipfelmütze. Es musterte Judith von Kopf bis Fuß, ehe es zu sprechen begann: „Du bist ein Mensch!“, sagte es mit ruhiger tiefer Stimme.
Judith nickte.
„Das ist ungewöhnlich, höchst ungewöhnlich!“, sprach es fort und strich nachdenklich mit der Hand durch seinen Bart.
Judith wusste nicht, was sie sagen sollte und ob es unhöflich war, zu fragen, wer oder was diese Männchen waren. Sie selbst hatte noch nicht begreifen wollen, dass all dies tatsächlich passierte. Sie wollte glauben, es war nur ein Traum, aus dem sie irgendwann erwachen würde.
„Das ist nicht meine Schuld!“, platzte es vor Ungeduld aus Hamrog heraus. Der Alte und auch die anderen Männchen sahen ihn fragend an. „Sie muss den Staub berührt haben!“, versuchte er, sich zu rechtfertigen und seine Unschuld zu beteuern, „Ich kann nichts dafür! Es hat gewackelt. Ich wäre fast vom Baum gestürzt! Und plötzlich sitzt das Menschlein da! Die rote Kugel!“, fiel es ihm nun ein, „Sie ist Schuld! Weil sie gefallen ist.“
Weiter suchte Hamrog nach erklärenden Worten, während sich der Alte an Judith wandte: „Das ist ein Missgeschick!“, sagte er und sah sie erwartungsvoll an.
„Es war keine Absicht!“, beteuerte Judith. Sie fürchtete sich nicht vor den Kreaturen, doch die Situation brachte ein tiefes Unwohlsein in ihren Leib.
„Sicher war das keine Absicht!“, bestätigte der Alte, „Trotzdem müssen wir beraten, was wir jetzt tun. Menschen dürfen hier nicht sein. Sie dürfen nicht von uns wissen! So lautet der Kodex! Aber du bist ein Mensch und du weißt von uns.“
Das Murmeln in der Menge setzte wieder ein.
Der Alte überlegte eine Weile, bis ihm etwas einfiel. Er hob die Hand und deutete die Menge zum Schweigen an. Stille folgte seiner Geste. „Da du uns jetzt schon gesehen hast, sollten wir dir erklären, wer wir sind! Und ich denke, du möchtest wohl wieder in deine Größe zurückkehren, nicht wahr?“
„Ginge das?“, fragte Judith.
„Nun, ich werde in der Enzyklopädie für unerwartete Zufälligkeiten nachschlagen. Es könnte eine Weile dauern, aber ich bin sicher, wir kriegen es wieder hin. Schließlich ist Weihnachten und dieses Fest darf nicht ohne dich stattfinden, Judith!“, sprach der Alte zuversichtlich.
Judith erschrak. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie erstaunt.
„Och“, begann der Alte und wandte sich erst an die Männchen um ihn herum: „Auf, auf!“, rief er laut und alle horchten aufgeregt auf, „Zurück an die Arbeit! Wir müssen noch heute fertig werden!“
Wirr durcheinander laufend brach ein weiterer Tumult aus, in dem die Männchen rufend und hektisch zu ihren Arbeiten zurückkehrten. Auch Hamrog wollte in dem Chaos unbemerkt verschwinden, doch der Alte hielt ihn zurück: „Du nicht, Hamrog!“, ermahnte er ihn und Hamrog blieb mürrisch knurrend stehen. „Also dann, Judith“, sagte er und fuhr mit freudiger Stimme fort: „Wir sind die Wichtel. Wir leben in den Häusern der Menschen und helfen dabei, die Feste vorzubereiten, damit die Menschen sich voll und ganz daran erfreuen können. Wir leben im Verborgenen. Es ist wichtig für uns, dass die Menschen nichts von uns wissen, denn sonst verstoßen sie uns womöglich. Wir benötigen den Schutz des Hauses, deshalb wäre das furchtbar für uns.“
Judith lauschte aufmerksam und mit Wissbegierde für die winzigen Gestalten, die unbemerkt in ihrem Haus lebten. „Ihr seid die Weihnachtswichtel?“, wiederholte sie neugierig.
„Ähm, ja“, antwortete der Alte, „und nein! Alle Feste der Menschen liegen uns am Herzen. Wir erfreuen uns daran, dass die Menschen sie ohne Sorge und voll der Freude feiern können. Wir feiern sogar heimlich mit!“
Hamrog seufzte mürrisch und sah desinteressiert und gelangweilt zur Seite.
„Hamrog, mein Lieber“, sagte der Alte und wartete geduldig, bis dieser ihn ansah, „Ich werde in der Enzyklopädie nachsehen. Währenddessen wird dir die Strafe auferlegt, den Wichteln bei den versäumten Aufgaben zu helfen.“
„Was?“, rief Hamrog empört. „Aber, Hamlin…“, wollte er sich beschweren, doch der Alte hörte nicht auf ihn.
„Judith“, sagte er, „dürfte ich dich bitten, die Zeit damit zu verbringen, meinen Wichteln zu helfen. Sie sind mit ihren Arbeiten durch den Tumult in Verzug gekommen. Und da du ohnehin warten musst…“
Judith nickte. „Gern!“, sagte sie lächelnd, da die Freundlichkeit Hamlins und die Wärme seiner Worte Judith beruhigten.
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