Robin erschrak bei den Worten, denn er hatte nicht mehr daran gedacht, wie Oma Irmgard reagieren würde, wenn an Weihnachten nicht alles im Wohnzimmer perfekt war. Er beruhigte sich und tat, wie ihm geheißen. Nur Quaki blieb hungrig und fiepend bei der Schale stehen, setzte sich kurz darauf hin und starrte unruhig auf die Köstlichkeiten auf dem Wohnzimmertisch.
„Nein, Quaki. Aus!“, befahl Judith und der Hund gehorchte.
Er ging zu seinem Körbchen, der zwischen dem Sessel und einem der beiden Sofas lag. Aufmerksam lauschend und beobachtend sah er seinem Frauchen dabei zu, wie es die Tischdecken und Servietten zurechtzupfte, hier und da Krümel in die Hand kehrte und damit letztlich in der Küche verschwand.
Dort stand Robin am Tisch und suchte aus den darauf verteilten Dosen Kekse heraus, mit denen er diejenigen ersetzen konnte, die er und sein Hund zuvor heimlich verspeist hatten. Er wusste, dass Oma Irmgard sehr penibel war und dass für die alte Hausfrau alles perfekt sein musste. Nirgends durfte ein Staubkorn fliegen und nirgends durfte eine Falte in jedwedem Stoff sein. Der Weihnachtsschmuck musste gut hergerichtet sein und ein warmes, wenngleich in den Augen Judiths sehr kitschiges Gesamtbild ergeben. Andernfalls, das wussten alle hier, würde sie sich darüber beschweren und der Familie Vorhaltungen machen, weil sie sich für ein so bedeutendes Fest zu wenig Mühe gab.
Judith hatte die Krümel und den Staub in den Mülleimer gekippt und sah neugierig zu ihrem Sohn hin. Er hatte eine weitere Keksdose dazugeholt, in der mit Schokolade und runden bunten Zuckerstreuseln verzierte Kekse waren.
„Robin“, begann Judith und stellte sich abwartend neben ihn.
Der rothaarige Junge sah zu seiner Mutter hin, als diese nicht weitersprach. „Was ist?“, fragte er und senkte den Arm mit dem Keks in der Hand, den er ob seiner Tauglichkeit für Oma Irmgards strenge Vorstellungen gerade geprüft hatte.
„Hat deine Schwester in den letzten Tagen mit dir geredet?“, fragte Judith unverblümt und wühlte ihrerseits in einer der Keksdosen herum, um dem durchschauenden Blick ihres Sohnes auszuweichen. Sie wusste, wie nahe sich ihre Kinder standen und wie oft sie schon Geheimnisse miteinander geteilt hatten, von denen die Eltern erst Wochen später erfuhren.
Robin blickte mit seinen braunen Augen nachdenklich zu dem Kekshaufen hin, den er für die Wohnzimmerschale zusammengesucht hatte. „Wir reden oft!“, antwortete er geschickt.
„Sicher!“, erwiderte Judith lächelnd. Er hatte noch niemals ein Geheimnis seiner Schwester verraten. Er legte immer Wert darauf, dass die Menschen in seiner Nähe sein Vertrauen wertschätzten. Er log selten und obwohl er ein elfjähriger Junge war, der eigentlich nur Flausen im Kopf haben sollte, erledigte er die ihm aufgetragenen Aufgaben immerzu und sogar sehr pedantisch. Trotzdem verriet seine ausweichende Antwort, dass er etwas wusste. „Ich werde noch die letzten Dekorationen aufhängen und ich möchte, dass du mir dabei hilfst, Robin!“, meinte sie.
Robin aber hatte andere Pläne mit dem Tag gehabt. „Was?“, fragte er wenig begeistert. Zugegeben, Robin mochte keine Aufgaben und versuchte immer, sich irgendwie vor ihnen zu drücken, indem er Ausreden fand. Meist jedoch funktionierte das nicht und sobald er es merkte, erledigte er die Aufgaben gewissenhaft. „Ich will aber noch mit Quaki Gassi gehen!“, versuchte er eine Ausflucht.
„Du kannst danach mit ihm raus!“, blieb Judith streng.
„Was ist mit Papa? Wo ist der?“, fragte er in einem zweiten Versuch, die Aufgabe von sich zu weisen.
„Er musste noch mal in die Praxis und kommt erst in ein paar Stunden zurück“, antwortete Judith schlicht.
„Und Tascha? Warum muss sie nicht helfen?“, fragte er und fischte die letzten der fehlenden Kekse aus der Dose heraus.
„Deiner Schwester geht es im Augenblick nicht so gut“, meinte Judith. „Sie ist schon die ganze Zeit in ihrem Zimmer.“
Robin wurde still. Er nahm die Kekse und ging ins Wohnzimmer, wohin ihm Judith aufmerkend folgte.
„Weißt du, was mit deiner Schwester los ist?“, fragte sie, denn Judith hatte mehr Widerstand von ihrem Sohn erwartet, ehe er beim Dekorieren helfen würde.
„Ach, Mama“, begann Robin frech, „Sie ist fünfzehn! Du weißt doch, wie Fünfzehnjährige sind.“
Judith seufzte. Irgendwann musste Robin diese Worte von seinen Eltern aufgeschnappt haben und nun wandte er sie geschickt gegen seine Mutter. „Robin!“, ermahnte sie ihn trotzdem, denn Nataschas ungewöhnliches Verhalten ließ ihr keine Ruhe, „Wenn es etwas Ernstes ist, musst du es mir sagen!“
Robin hatte in der Zeit die Kekse ordentlich und nach den Wünschen von Oma Irmgard zurechtgelegt. Er sah zu seiner Mutter. „Wo sind die Dekorationen?“, fragte er ausweichend, denn er wusste sehr wohl, wo der Weihnachtsschmuck aufbewahrt wurde.
Judith sah ihn mit einem ernsten Blick aus den dunkelblauen Augen an und erwartete eine Antwort von ihrem Sohn.
Robin merkte, dass sie nicht nachgeben würde. „Sie wird sich schon wieder einkriegen“, sagte er besänftigend.
„Gut!“, meinte Judith und legte dem Jungen beruhigt eine Hand auf den Rotschopf. Robin war jung, aber wenn er sagte, dass ein Geheimnis sich von allein klären ließ, dann bedeutete das stets, dass sich bereits um eine Lösung bemüht wurde oder es geplant war, das Geheimnis bald zu enthüllen. „Sag deiner Schwester, dass sie jederzeit mit ihren Eltern reden kann“, meinte Judith dennoch, um ihrer Sorge Nachdruck zu verleihen.
Robin verzog nur den Mund zu einem halbherzigen Lächeln und blickte zu Boden. Er mochte es nicht, beim Geheimnishüten erwischt zu werden, es verärgerte ihn. Es war eine Niederlage und Niederlagen mochte der angehende Sportler nicht. „Wollen wir dann jetzt dekorieren?“, fragte er nach einer Weile.
Aus dem Wohnzimmerschrank nahm Judith den Christbaumschmuck und reichte ihn ihrem Sohn mit der Aufgabe, vor allem alle Figuren irgendwo aufzuhängen, sodass die Großmutter zufrieden sein würde. Die Figuren, Engel, Nussknacker, Lämmchen und Trompeten, waren alter Familienschmuck der Waidmanns und Oma Irmgard legte Wert darauf, dass sie jedes Jahr allesamt am Weihnachtsbaum hingen. Judith selbst fand sie kitschig und nach all den Jahren zunehmend langweilig. Ihre Mutter, Greta, hatte von einer ihrer Reisen einmal tierische Schnitzfiguren aus einem fernen Land mitgebracht, doch als sie an Weihnachten am Baum hingen, hatte Oma Irmgard deswegen einen Streit angefangen. Sie fand es fürchterlich, doch Oma Greta war da ganz anderer Meinung gewesen. Zum Glück Judiths aber konnte sich Oma Greta davon überzeugen lassen, nachzugeben und den Streit zu beenden. Seitdem zierten die Schnitzfiguren die Fensterbank neben der Ecke, in der der Baum jedes Jahr an derselben Stelle stand.
Während Robin die Figuren an den Tannenzweigen zwischen dem sporadisch aufgehängten Lametta und den leuchtenden roten und grünen Christbaumkugeln sowie den orange-gelblich leuchtenden Lämpchen der Lichterkette verteilte, hängte Judith wenige weihnachtliche Gierlanden und Lichterketten auf. Oma Irmgard wollte es so, dass die grünen Gierlanden am oberen Wandabschluss die Zimmerdecke einrahmten und von den Ecken zur mittig hängenden Deckenlampe führten. Die Lichterketten sollten die Fenster einrahmen und ein Gefühl von Licht und Wärme versprühen. Der niedrige Wohnzimmertisch sollte mit Leckereien und Kerzen und dem Adventskranz in der Mitte verziert werden und Besteck und Geschirr für das Naschen bereithaben. Zuletzt sollten wenige Kerzen im Raum verteilt werden, damit sie die elektrischen Lampen ausmachen und im flackernden Schein der Kerzen das Weihnachtsfest begehen konnten.
„Ich bin fertig!“, sagte Robin nach einer Weile und stand in Erwartung weiterer Aufgaben neben seiner Mutter.
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