„Na, Engel!“, begann Anton locker. Ihm war das Missbehagen der Tochter nicht entgangen.
„Hey, Papa“, erwiderte Natascha. Sie strich ihr langes dunkelbraunes Haar hinter das rechte Ohr und ging auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch zu, auf den sie sich einen Moment später gesetzt hatte.
Anton sah ihr nachdenklich nach. Er suchte noch nach den passenden Worten, um nicht streng zu wirken. Seufzend schloss er die Tür hinter sich und setzte seinen großen schlanken Körper auf das Bett mit dem blauen Laken und dem blauen Überzug. „Wir haben jede Menge Kekse gebacken!“, begann er freudig, „Kannst du es riechen?“
„Ja“, antwortete Natascha knapp und fügte an, nachdem sie den erwartungsvollen Blick Antons bemerkt hatte: „Ich rieche es schon die ganze Zeit. Es duftet herrlich!“
„Du hast es letztes Jahr genossen, Kekse mit uns zu backen, oder habe ich das falsch in Erinnerung?“, versuchte Anton etwas aus dem Mädchen herauszukitzeln.
„Ja, schon!“, entgegnete Natascha, die noch immer eifrig bemüht war, den durchstöbernden Blicken des Vaters auszuweichen, „Mir geht es nicht so gut, weißt du.“
„Bist du krank, oder hat es was mit der Schule zu tun?“, fragte Anton nach, denn das Thema Schule bereitete beiden nach Nataschas Leistungsabfall große Kopfschmerzen und war demnach ein wahrscheinlicher Grund für Nataschas Rückzug. Zumindest gingen Anton und Natascha sich seit dem Geständnis der Tochter über die schlechter werdenden Noten meist aus dem Weg, da sich Natascha deswegen mies fühlte und weil Anton nicht genau wusste, was er sagen oder tun konnte, um Natascha zu helfen. Er wusste wohl, was sein Vater, Ludwig, sagen würde, denn Anton hatte es oft genug von dem alten Offizier hören müssen: „Streng dich mehr an!“ - „Sei disziplinierter!“ - „Wenn du einmal Offizier werden willst, musst du klug sein!“ - „Du bist ein Dummkopf, wenn du die Schule nicht schaffst! Und Dummköpfe haben wir genug im Land!“
Anton glaubte, die harschen Worte des alten Mannes waren keine Hilfe und erst recht keine Lösung. Er wollte den Ehrgeiz in seiner Tochter wecken, den ein Schulfreund trotz der niederschmetternden Worte Ludwigs in ihm hatte wecken können. Er wusste nur nicht, wie er das anstellen konnte.
„Mir ist schlecht“, meinte Natascha und riss ihren Vater damit aus seinen Gedanken, „Ich meine, es ist nicht so schlimm, aber“, erweiterte sie nervös ihre Antwort, „Ich, … ich wollte nicht die Stimmung verderben.“
Anton saß einen Augenblick da und musterte Natascha eingehend. Er hatte nicht das Gefühl, dass sie ihn anlog, sondern viel mehr, dass sie ihm einen Teil der Wahrheit verschwieg. „Ausgerechnet an Weihnachten, was?“, meinte Anton mitfühlend, „Na ja, ich werde deiner Mutter sagen, sie soll dir einen Tee machen. Damit geht es dir bald hoffentlich besser!“
„Nein!“, entgegnete Natascha rasch und fügte nervös an: „Ich meine, ich will lieber ein wenig ruhen. Ich mag jetzt keinen Tee.“
„Ist gut“, sagte Anton, dem die Ausflucht in den Worten der Tochter nicht entgangen war, „Dann leg dich hin. Oma Greta wird bald hier sein. Vielleicht kennt sie ja ein exotisches Heilmittel für dich!“, sagte er und erwartete ein Lächeln von seiner Tochter.
Natascha erkannte den Witz darin, denn Oma Greta reiste seit Jahren mit ihrem eigenen Kleinflugzeug um die Welt und brachte besonders zu Weihnachten die exotischsten Dinge mit. Natascha lächelte, doch noch immer wich sie dem Blick des Vaters aus.
„Danke, Papa“, sagte sie, als sich Anton erhob und zur Tür ging.
Er drehte sich mit der Klinke in der Hand noch einmal zu seiner Tochter um: „Wenn es schlimmer wird, sag deiner Mutter Bescheid. Sie macht sich Sorgen.“
„Ja!“, antwortete das Mädchen verständnisvoll, „Mache ich!“
Damit verließ Anton das Zimmer seiner Tochter und stieg die knarzenden Stufen der hölzernen Treppe hinab, an deren Absatz Judith bereits erwartungsvoll stand. Sie sah ihren Mann ungeduldig an.
„Hat sie mit dir gesprochen?“, fragte die rotblonde Frau besorgt.
„Sie sagt, ihr sei schlecht. Sie will ausruhen“, antwortete Anton in knappen Sätzen, ging zur Garderobe hin und zog sich den Mantel an.
Judith reichte ihm den Autoschlüssel, der auf einer Kommode nahe der Haustür aufbewahrt wurde, die als Ablage für Schlüssel und, an Weihnachten, für Handys diente. „Und welche Diagnose stellt der Herr Doktor?“, fragte Judith ironisch nach.
Anton lächelte, nahm den Schlüssel an und blickte seiner Frau dann ernst in die dunklen blauen Augen: „Sie ist tatsächlich etwas blass und sieht müde aus, aber da ist etwas, dass sie mir nicht erzählen wollte.“
„Eigenartig“, meinte Judith darauf, „Was kann das bloß sein?“
„Ich weiß es nicht, aber ich muss jetzt los“, entgegnete Anton in Eile, „Vielleicht braucht sie Zeit, um es uns zu sagen. Ich glaube, es hat mit der Schule zu tun und sie will es uns erst nach dem Fest beichten. Du weißt doch, wie sie ist.“
„Ja“, sagte Judith mit leiser Stimme und seufzte. Natascha würde keinem das Fest mit schlechten Nachrichten verderben wollen.
Anton gab ihr einen Abschiedskuss auf den Mund und ging hinaus auf den gepflasterten Weg vor der Tür, der zur Straße hinführte. Links daneben stand unter einem Carport das Familienauto, rechts davon war ein hoher Eisenzaun auf einem zwei Fuß hohen Steinsockel, der den Garten vor dem Haus umschloss. Es schneite gemächlich auf den großen Baum im Garten und war bitterkalt. Der Weg vom hinteren Garten um das Haus herum zum vorderen war ganz mit Schnee bedeckt und geziert mit blassen Pfotenabdrücken.
Judith hielt sich frierend die Arme, als sie zusah, wie Anton ins Auto stieg und mit einem Winken die Auffahrt vor dem Carport verließ. Die Arme zog Judith zur Brust heran, während die winterliche Eiseskälte unter ihren Pullover kroch und ein Zittern durch den Körper jagte.
Eine Weile stand Judith nachdenklich in der Haustür und blickte in den weißen nebligen Nachmittagshimmel hinein, ehe der Blick über den großen verschneiten Baum mit seinen kahlen Ästen und Zweigen zum Türkranz fiel. Sie legte eine Hand auf den Weihnachtsschmuck, die sie langsam über die Tannenzapfen und -zweige und die sternförmigen Strohgestecke gleiten ließ. Natascha liebte Weihnachten. Sie hatte es schon geliebt, als sie noch ganz klein war, und Judith hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Freude ihrer Tochter an dem Fest mit jedem Jahr größer wurde. Eine Übelkeit würde sie nicht davon abhalten, sich der weihnachtlichen Stimmung hinzugeben, da war sie ganz sicher.
Judith seufzte.
Ihr fiel ein, dass bald die Großeltern da sein würden und sie besser noch einmal alles herrichtete, damit ihre Schwiegermutter dieses Jahr nichts zu meckern haben würde. Jedes Jahr hatte Ome Irmgard etwas zu meckern, denn für die alte Dame musste alles perfekt sein. Judith schloss die Haustür und begab sich über den dunklen Flur und mit einem besorgten Blick, der die Treppe hinaufstieg, ins Wohnzimmer.
„Robin!“, rief sie laut und empört aus, als sie ihren Sohn an der Schale mit dem Weihnachtsgebäck naschen sah.
Erschrocken und ertappt drehte sich der Elfjährige zu seiner Mutter um, sodass Judith erst jetzt sehen konnte, dass auch Quaki, der zweijährige Familienhund, einen Keks im Gebiss zermalmte. Er war leise die Treppe hinuntergestiegen, als seine Eltern in der Tür standen, und versehentlich war er gegen den Tisch gestoßen. Ein Keks war von der Schale gerutscht und Quaki hatte ihn blitzschnell ins Maul genommen. Da hatte auch Robin nicht länger widerstehen können. Sprachlos stand der Elfjährige jetzt da und suchte nach einer Ausrede.
„Na los, junger Mann“, rief Judith aus, „Geh in die Küche und füll die Schale wieder auf! Wenn Oma Irmgard das sieht, gibt es ein Donnerwetter!“
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