„Quatsch.“
„Sag nicht immer ‚quatsch’.“
„Na gut, aber ihr meintet doch auch, es sei gut, wenn ich möglichst weit weg ziehen würde.“
„Ja, hier wärst du doch nur unglücklich geworden.“
„Bin ich auch so.“
„Wirklich?“
„Weiß nicht, vermutlich schon.“
„Immer noch dieses Mädchen?“
„Anne ist eine ausgewachsene Frau, kein Mädchen. Ja, ich komme von ihr nicht los.“
„Spricht das nicht für so eine Single-Party?“
„Nein, ich glaube, das spricht dafür, daß du mir mal den Papa gibst.“
„Der ist nicht da.“
„Wann kommt er denn wieder?“
„Das weiß ich nicht. Der bringt den Wohnwagen weg. Das kann dauern.“
„Wieso bringt er denn den Wohnwagen weg? Ist doch was passiert?“
„Ach, der hat ein Loch. Haben wir das noch nicht erzählt?“
„Ein Loch?“
„Auf den wurde geschossen.“
„Was?“, fragte ich deutlich lauter.
„Ja, am Samstag, als wir ankamen. Die Polizei war auch schon da.“
„Wie bitte?“, fragte ich, wieder lauter als zuvor.
„Ja, die Polizei war auch schon da. Machen konnten die natürlich auch nicht viel.“
Die Ruhe meiner Mutter war anstecken, auch ich beruhigte mich wieder etwas.
„Nein, das meinte ich nicht. Warum habt ihr mir nicht schon viel früher was gesagt?“
„Ach, das haben wir wohl vergessen.“
„Aber so was vergißt man doch nicht.“
„Doch, ist wohl passiert.“
„Was hat Oma dazu gesagt?“
„Der haben wir es nicht erzählt.“
„Auch vergessen?“
„Nein, die sollte sich nicht aufregen.“
„Also findet ihr auch, daß es keine Kleinigkeit ist.“
„Schon.“
„Aber?“
„Was hättest du denn tun können?“
„Weiß ich nicht, aber so was will man doch wissen. Ich will doch wissen, wenn auf euch geschossen wird.“
„Auf den Wohnwagen wurde geschossen.“
„Okay, was sagt die Polizei?“
„Ja nichts. Was sollen die denn sagen? Die haben das aufgenommen. Wegen der Versicherung.“
„Und sonst?“
„Was denn?“
„Na, ermitteln die den Täter?“
„Nein, wie denn? Die Kugel haben wir nicht gefunden. Die können da doch nichts tun.“
„Okay, dann hättet ihr mich um so mehr schon früher anrufen sollen.“
„Ja, warum denn? Willst du einen Beschwerdebrief schreiben?“
„Hast du schon vergessen, womit ich zur Zeit meine Brötchen verdiene? Äh, wenn ich sie mir denn verdiene...“
Kurz Pause und dann: „Ach ja, stimmt ja. Das hatten wir gar nicht auf dem Schirm.“
„Was gibt es zum Abendessen?“
„Ich wollte Bratkartoffeln machen.“
„Sehr gut, ich liebe Bratkartoffeln. Ich komme. Laßt mir was übrig oder wartet.“
„Aber wegen Bratkartoffeln muß du doch nicht extra vier Stunden durchs Land fahren. Da gibt es doch bei dir dieses Lokal...“
„Mama?“
„Ja?“
„Ich komme nicht wegen der Bratkartoffeln!“
„War das jetzt nett oder nicht nett?“
„Ich komme, weil auf euch...“
„Den Wohnwagen.“
„...geschossen wurde und ich Detektiv bin und das klären möchte.“
„Na, dann bis nachher. Fahr vorsichtig.“
„Ja, bis später.“
Ich hatte meinen Wagen seit ein paar Tagen nicht mehr bewegt, hatte auch vergessen wo er stand. Wartungsaufwand und Parkplatzprobleme sprechen eindeutig gegen ein Auto in der Großstadt, aber manchmal ist es einfach praktisch. Ich hätte in dem Augenblick nicht Bahn fahren wollen. Allerdings mußte ich mein Auto erst einmal finden.
Ich ging nach Hause und packte das Nötigste für ein paar Tage. Beim Abschließen der Wohnungstür fiel mir sogar wieder ein, wo der Wagen stand, jedenfalls wo ich ihn abgestellt hatte. Er sprang nicht gleich an, aber ich brauchte nicht länger als zum Rauchen einer Zigarette, um ihn zum Laufen zu bekommen. Der Tank war glücklicherweise voll.
Ich prügelte meinen roten Passat Kombi Baujahr 80, einen der letzten der ersten Baureihe, über die Autobahn. Das hieß nicht, daß ich wirklich schnell fuhr, aber so 160 waren es doch manchmal. Die Einheitsgeschwindigkeit irgendwo in der Nähe von 120 konnte ich einfach nicht ertragen. Schneller fahren bringt einen nicht nur gefühlt schneller ans Ziel, es macht mehr Spaß und erhöht den Adrenalinspiegel, was die Konzentration erhöht und die Unfallgefahr verringert. Klingt paradox, ist es auch.
Ich rauchte, hörte Musik, meist Klassiker aus Teenagertagen oder, wie im Fall von King Crimson, Musik, die ich als Teenager entdeckt hatte. Ich erinnerte mich, wie ich von einer Plattenböse in einem Ausflugslokal am Fluß in der Nähe des neuen Knastes – schon wieder solch eine Absurdität, aber so scheint die Welt nun einmal zu funktionieren – kam, neben ein paar Bootlegs die Platte „Islands“ dieser Band, deren Namen gelegentlich in Biographien auftauchte, die ich las, im Arm hatte, mich in mein Zimmer verzog und den Rest des Sonntags auf meinem Sofa lag, mit Kopfhörern den Klängen dieser seltsamen und irgendwie beglückenden Musik lauschend. Es war wieder einer der Tage, an denen ich glaubte, die Welt noch weniger zu kennen und zu verstehen als je zuvor, und es gefiel mir.
Was meine Erinnerungen von jenem Sonntag noch weiter zurück in die Vergangenheit in den damaligen Wohnwagen meiner Eltern und einen Sommerurlaub an der holländischen Nordsee trieb, wird vermutlich nie jemand erklären können. Vielleicht war es nur das Wort „Islands“, die damit verbundene Assoziation „Meer“ und die Tatsache, daß mir gerade der beschossene Wohnwagen meiner Eltern im Kopf rumspukte. Jedenfalls dachte ich an ein Mädchen, das mir in jenen beiden Wochen gefiel. Alexandra war ihr Name, und vor allem dachte ich an meine frühpubertäre Phantasie von Sex mit Alexandra in den Dünen irgendwo zwischen Wohnwagen und Meer, unweit der Wege, die sich durch die Dünen schlängelten.
Natürlich blieb es bei der Phantasie und nach jenem Urlaub sah ich dieses Mädchen nie wieder, aber die Phantasie kam immer mal wieder, vielleicht weil sie – auch mit anderen Mädchen oder anderen Frauen – sehr lange eine Phantasie blieb.
Nach gefühlten zwei Millionen LKW auf der rechten Spur während dreieinhalb Stunden Fahrt und einer halben Schachtel Zigaretten parkte ich den Wagen vorm Grundstück meiner Eltern. Einer der Vorteile des Dorfes, vermutlich jeden Dorfes, war, daß man nie einen Parkplatz suchen mußte.
In der Einfahrt zur Garage parkte der Wagen meiner Eltern, irgendeiner dieser modernen, charakterlosen Wagen, die alle gleich aussehen. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches Modell welcher Marke es war. Die Stelle zwischen Haus und Garage, die wir Hof nannten und an der normalerweise der Wohnwagen wohnte, war leer.
„Tach, mein Junge“, sagte mein Vater, der in der Haustür stand, die Hände in den Hosentaschen, und zuguckte wie ich meine Tasche aus meinem Auto nahm und abschloß. Eigentlich würde nichts passierten – es passiert immer etwas, weshalb Sätze niemals so beginnen sollten, aber ich denke, es ist klar, was gemeint ist –, wenn man das Auto auch mal offen ließe, aber wenn hier neuerdings scharf geschossen wurde, wer weiß, was dann noch in Mode gekommen war.
„Du fährst ihn ja immer noch.“
„Ja, wenn er erstmal läuft, dann ja auch gut.“
„Immer noch Probleme beim Anlassen?“
„Ja, das Übliche.“
„Laß mal den Vergaser austauschen.“
„Kein Geld.“
„Soll ich mal unseren Kemal fragen? Der hat’s drauf und er macht einem immer einen mehr als fairen Preis. Darfst aber nicht hoffen, daß es von heute auf morgen geht. Der bastelt dir aus drei Coladosen einen neuen Auspuff.“
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