Annabell redete und hörte nicht zu. Sie rief wieder und wieder an und wollte nicht verstehen, was der Grund für dieses plötzliche Ende war, und dass es für Carla kein Zurück mehr gab.
Nach ein paar Tagen wurde Carla klar, dass sie Annabell und die gesamte Situation unterschätzt hatte. Annabell schrieb Briefe an Carlas Privatadresse, sie ging dazu über, in Carlas Galerie anzurufen und stand an zwei Abenden wartend auf der Straße, als Carla die Galerie abschloss und nach Hause gehen wollte. Die anfänglichen Erklärungen war Carla nun leid. Sie sagte Annabell, dass sie eben nichts mehr zu sagen habe, und dass alles, was sie noch sagen könne, Wiederholungen dessen seien, was sie ohnehin schon mehrmals gesagt habe.
Zum ersten Mal begann Carla darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn Annabells besessene Verhaltensweisen dazu führten, dass Anja etwas von ihrer Affäre mitbekäme. Carla wusste es nicht. Dieser Fall war bisher nie eingetreten. Vermutlich hatte Anja eine Ahnung davon, dass sich Carla hin und wieder mit anderen Frauen traf, aber über eine Ahnung war es nie hinausgegangen. Nie hatte etwas so Offensichtliches im Raum gestanden, über das Anja nicht mehr hätte hinwegsehen können. Und soweit sollte es auch nicht kommen. Auch Annabell musste doch klar sein, dass sie, sollte sie wirklich Anja über ihre Affäre informieren, nicht mehr die geringste Chance auf irgendetwas bei Carla hätte. Aber was, wenn es gar nicht mit Absicht geschehen würde, wenn es durch Annabells verdammte Unvorsichtigkeit zufällig herauskäme. Carla hatte es geahnt, dass sie sich irgendwann in genau so einer Situation wiederfinden würde, aber nun war es zu spät.
Es war ein schöner Samstagmorgen, als sie darüber grübelte, was sie unternehmen könnte, um Annabell endgültig aus ihrem Leben zu streichen. Carla hatte darauf bestanden, bei Anja zu übernachten. Sie wollte um jeden Preis die Möglichkeit verhindern, dass Annabell an einem gemütlichen Samstagmorgen bei ihr vor der Haustür stand, wenn sie mit Anja gerade beim Frühstück saß.
Sie lag noch im Bett, sie genoss es, an den Wochenenden lange herumtrödeln zu können, bevor der Tag richtig anfing. Wie immer hatte es Anja nicht lange im Bett ausgehalten. Sie war längst schon auf dem Weg zum Bäcker, Brötchen und Zeitungen holen. Als sie die Wohnungstür hörte, döste Carla immer noch vor sich hin, hörte aber jetzt, wie Anja geradewegs mit schnellen Schritten den Flur entlang Richtung Schlafzimmer ging. Ihr Gesicht war gerötet, als sie jetzt in der Schlafzimmertür erschien, ihr Atem ging schnell und Carla merkte, dass sie sich beeilt hatte.
Sie setzte sofort zum Reden an: „Das ist unglaublich, hast du das mitgekriegt?“ Mit diesen Worten schmiss sie Carla die Zeitung entgegen, die neben Carla auf dem Bett landete.
„Was denn mitgekriegt?“, fragte Carla, die auf einmal sehr wach war.
„Direkt auf der ersten Seite, sieh es dir an!“
Als Carla die Zeitung auseinanderfaltete und die Schlagzeilen erblickte, konnte sie nicht fassen, was sie dort sah. Sie war nicht in der Lage, sich auf die Buchstaben oder irgendeinen Text zu konzentrieren. Alles, was sie sah, war das Foto, das fast die gesamte Titelseite einnahm. Auf dem Foto war das Gemälde einer nackten Frau zu sehen, was man jedoch nur erkennen konnte, wenn man wusste, wie dieses Gemälde vorher ausgesehen hatte. Und das wusste Carla nur zu gut.
„Was, was ist da passiert?“, stotterte Carla jetzt leichenblass, während sie weiter unverwandt auf das Bild starrte.
Die Farbe sah an vielen Stellen großflächig verlaufen aus, ja fast wie weggebrannt. Von dem Gesicht der „Madonna“ war fast nichts mehr zu erkennen. Abgesehen davon klafften zwei große Schnitte in der Leinwand, der eine über dem eigentlich so hell leuchtenden Bauch der „Madonna“, der andere verlief quer über ihren Hals, als hätte jemand den Kopf vom Körper trennen wollen. Dort, wo die Schnitte verliefen, klaffte die Leinwand auseinander und legte den Blick auf den dunklen Hohlraum hinter der Leinwand frei, als würde man in Wunden blicken, die noch nicht angefangen hatten zu bluten.
„Ein Anschlag, gestern am Abend, kurz bevor sie die Kunsthalle schließen wollten. Ist das nicht wahnsinnig? Ich meine, wer tut so etwas? Sieh dir das an, da wird wohl nicht mehr viel zu retten sein.“
Anja war jetzt zum Bett gekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Sie legte Carla vorsichtig eine Hand auf den Arm, als sie jetzt in Carlas erschrockenes, bleiches Gesicht blickte.
„Ich weiß, was dir dieses Bild bedeutet“, sagte sie behutsam, als sie die Tränen über Carlas Gesicht laufen sah. „Hör mal, ich meine, das weißt du bestimmt, aber sie schreiben hier, dass es noch vier andere Bilder von der „Madonna“ gibt. Sie ist also eigentlich nicht wirklich zerstört.“
Carlas Stimme klang leise und belegt, als sie jetzt fragte: „Weiß man, wer es gewesen ist?“
„Nein, anscheinend noch nicht. In dem Artikel steht, die Überwachungskamera habe jemanden bei dem Anschlag gefilmt, der komplett schwarz angezogen war und eine Wollmütze übers Gesicht gezogen hatte. Vom Körperbau her geht man wohl davon aus, dass es entweder ein sehr schlanker, eher kleiner Mann war oder eine Frau. An der Kasse ist denen anscheinend niemand aufgefallen, der ganz in schwarz gekleidet war, aber die Polizei meint, dass der Täter sich auch auf der Museumstoilette umgezogen haben könnte, damit sich eben niemand an seine Kleidung erinnert. Auf jeden Fall war er wohl einfach zu schnell. Das Ganze muss in Sekunden passiert sein, und genau so schnell war er auch schon wieder draußen.“
„Oder sie“, war alles, was Carla dazu sagen konnte.
Carla war den Vormittag über wie betäubt und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie überlegte, Annabell anzurufen, entschied sich aber schnell dagegen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall mit ihr und dieser Sache in Verbindung gebracht werden. Dass es Annabell gewesen war, hatte Carla beim ersten Blick auf das Foto in der Zeitung gewusst.
Im Laufe des Nachmittags beruhigte sich Carla ein wenig. Anja kümmerte sich rührend um sie, besorgte alle Zeitungen, die sie finden konnte und die etwas über den Vorfall berichteten, und behandelte Carla den Rest des Tages wie eine Kranke.
Anja hatte recht. Es gab noch vier weitere Bilder von der „Madonna“. Munch hatte sich lange und intensiv mit der „Madonna“ beschäftigt, so dass schließlich fünf gemalte Versionen der „Madonna“ entstanden waren, und eine davon hatte Carla unzählige Male betrachtet, so oft, dass sie nicht einmal hätte schätzen können, wie oft. Zwei weitere Gemälde befanden sich in Oslo, eines im Munch-Museum, das andere in der Osloer Nationalgalerie. Die zwei anderen Gemälde waren, soweit Carla sich erinnern konnte, im Privatbesitz. Sie war sich nicht mehr ganz sicher und klickte sich zwischen Bergen von Zeitungen auf Anjas Schreibtisch durch ein paar Internetseiten. Tatsächlich, zwei der Madonnen waren im Privatbesitz, und Carla stellte fest, dass es nicht sonderlich schwierig war herauszufinden, wer diese Besitzer waren. Natürlich nicht. Bei Gemälden dieser Größenordnung war es ein Leichtes, etwas über ihren Verbleib herauszufinden, dafür musste man sich noch nicht einmal in der Kunstwelt auskennen.
Auch Anja las sich durch diverse Zeitungsartikel, die meisten Zeitungen hatten heute Morgen darüber berichtet. Carla wusste, dass das Bild an sich für Anja keine große Bedeutung hatte, aber durch Carlas Bestürzung hatte es nun doch eine gewisse Bedeutung für sie bekommen. Außerdem schien Anja, je mehr sie las, immer faszinierter von der Sache zu sein. Immer wieder las sie Carla aus den Zeitungsartikeln vor. Viele Zeitungen hatten den Vorfall dazu genutzt, ihre Artikel noch mit ein bisschen Hintergrundwissen über das Thema „Kunstattentate“ auszuschmücken.
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