Nun, Jacob und seinen Geschwistern standen noch weitere Enttäuschungen bevor. Während Albert und Otto heimgekehrt waren und Frau Lehmann die Kinder beaufsichtigte, hatte der Primar bereits Boten losgeschickt, von denen einige schon zurück waren. Sie brachten Menschen mit, die für die Zukunft der Familie Haisch eine große Rolle spielen sollten.
Währenddessen saß Wilhelmine mit ihrem Schwager auf einer der Kirchenbänke im leeren Gotteshaus und musste sich die ganze bittere Geschichte Viktors anhören. Es war kühl und dunkel hier drinnen, aber sie waren ungestört. Nur der Pfarrer war zugegen. Stockend und immer wieder mit den Tränen kämpfend erzählte Viktor. Ab und zu unterstützte ihn Pastor Lehmann mit sanfter Stimme.
Nachdem Wilhelmines schicksalhafter Brief in Teplitz eingetroffen war, hatte sich Ludwig plötzlich völlig zurückgezogen. Er nahm nicht mehr an den Mahlzeiten teil, ging nicht zur Schule und verkroch sich stundenlang auf dem Heuboden. Weder das Keifen seiner Mutter noch das Zureden seines Vaters konnten ihn zur Vernunft bringen. Eines Morgens, Gertrud beschimpfte Viktor gerade, er hätte seinen Sohn öfter mit dem Stock verprügeln müssen, wie andere Väter es taten, sagte Ludwig laut und deutlich zu ihr:
„Du bist eine Mörderin!“
Gertrud verstummte augenblicklich, wich totenbleich an die Wand zurück und starrte ihren Sohn erschrocken an.
„Aber Junge, wie kannst du so etwas sagen!“, fuhr Viktor seinen Sohn an und schüttelte ihn, als er nicht reagierte. Da sprudelte es aus Ludwig heraus: Was er gehört und was er sich zusammengereimt hatte und dass er ganz sicher war, die Mutter hätte die Ahna umgebracht, indem sie sie vom Heuboden stieß. Gertrud hätte nun leicht alles abstreiten können, aber ihre Reaktion sprach Bände. Sie war so blass geworden, dass sie fast schon grün wirkte und stammelte immer nur:
„Sie war doch sowieso schon alt – sie war doch alt.“
Ludwig verließ noch am selben Tage das Elternhaus. Er ging nach Lichtental zu seiner Schwester Hanna, die dort mit ihrem Mann einen kleinen Hof hatte. Um mit der Last auf seiner Seele leben zu können, wurde er ein tiefreligiöser Mensch und verbrachte viele Stunden beim Gebet.
Auch Viktor wurde nicht mit der Tatsache fertig, dass seine Mutter von seinem eigenen Weib erschlagen worden war. Er zog sich, wie vorher sein Sohn, völlig zurück. Außerdem verfiel er dem Alkohol.
Gertruds verhärtetes Herz war indes auch nicht ohne Schaden geblieben. Die Schuld, mit der sie seit Jahren lebte, hatte ihren Verstand verwirrt. Das äußerte sich immer öfter in Wutanfällen, die sich nun, weil niemand anders mehr da war, hauptsächlich an den beiden jüngsten Kindern entluden. Als Viktor eines Tages seinen kleinen Arthur wimmernd und blaugeschlagen im Schafstall liegend fand, ging er zum Primar und zeigte seine Frau wegen Mordes an. Der Gemeindeschreiber war der Gesetzeskundige im Dorfe. Weniger wichtige Streitigkeiten und geringe Vergehen konnten vom Schulzengericht geahndet werden. Aber mit einem Mord war es überfordert. Schwere Vergehen wie dieses kamen vor das Wolostgericht. Zunächst holte der Büttel Gertrud von zu Hause ab und sperrte sie unter den Augen ihrer Kinder und sämtlicher Nachbarn in die Arrestzelle, das ‚Häusle‘, welches gleich hinterm Bürgermeisteramt lag. Gertrud spuckte Gift und Galle. Ludwig wurde es erspart, gegen seine eigene Mutter aussagen zu müssen, denn Gertrud war geständig, wenn auch nicht einsichtig. Zunächst kam sie ins Gefängnis, später wegen ihres verwirrten Geistes ins Irrenhaus.
Viktor versuchte, mit den Kindern ein normales Leben weiterzuführen. Obwohl er sich nicht offiziell als einer der Heiratskandidaten gemeldet hatte, hoffte er doch insgeheim, seine Schwägerin würde zu ihm ziehen und ihm den Haushalt führen. Als dieses Ansinnen im Gespräch ersichtlich wurde, griff der Pastor ein. Seine Worte waren freundlich, aber seine Augen blickten streng, als er Viktor unmissverständlich klar machte, dass er ein solch unzüchtiges Verhalten nicht dulden konnte. Schließlich war Gertrud noch am Leben und Viktor mit ihr vor Gott verbunden. Eine neue Frau kam nicht in Frage. Höchstens als Magd könne Wilhelmine bei ihm leben. Fragend sahen die Männer Wilhelmine an.
Als Magd bei Viktor leben und im Stall schlafen? Die eigenen Kinder zur Adoption freigeben und Gertruds Kinder aufziehen? Langsam schüttelte Wilhelmine den Kopf.
Viktor wirkte nicht sonderlich überrascht, der Pastor erleichtert.
Da wurden die Kirchentüren aufgestoßen. Die ersten Bewerber trafen ein. Frau Lehmann erschien mit den Kindern in der Kirche. Wilhelmine, die von dem Gespräch mit Viktor noch ganz benommen war, drückte die Kleinen an sich und nahm Emilies Hand. Herr Schenker, der Primar, kam freundlich auf Wilhelmine zu und machte sie mit einem Bauern bekannt. Der Mann hatte seinen Schnurrbart gezwirbelt und trug eine Blume im Knopfloch. Im Hintergrund sah Emilie noch einige Herren stehen, die die Mutter interessiert betrachteten. Was waren das für Männer? Frau Lehmann kam jetzt wieder auf sie zu und führte die Kinder geschickt und unauffällig von der Mutter weg. Warum wirkte die Frau so nervös?
Draußen stand ein Bauer mit seiner Ehefrau. Hinter ihnen drängten sich fünf kleine Mädchen. Sie sahen alle gleich aus und waren offenbar jeweils nur ein Jahr auseinander. Der Mann klopfte Jacob auf die Schulter und betrachtete ihn mit Wohlgefallen.
„DAS ist ein Junge, ein Prachtjunge!“, erklärte er laut. Seine ausgemergelte Frau lächelte säuerlich.
Emilie blickte sich um und sah Selma auf dem Arm einer Frau. Sie war noch jung, auch ihr Gatte, der neben ihr stand und Eduard auf dem Arm trug, konnte kaum dreißig sein. Die Frau hatte glückliche Augen und stellte dem Kind Fragen. Wenn Selma etwas antwortete, lächelten die Erwachsenen und sahen sich an. Anscheinend ein kinderloses Ehepaar. Was wollten sie mit den Zwillingen? Etwa mitnehmen?
Paula schwatzte mit einer dicken Frau, die sich zu ihr niedergebeugt hatte.
„Bist du aber dick!“, hörte Emilie Paula sagen. Der Mann und der ältere Junge, die hinter der Frau standen, grinsten breit. Ärgerlich richtete die Dicke sich auf.
„Na, dir werd ich die Frechheiten schon noch austreiben, mein Fräulein!“, schnaufte sie. Wie meinte sie das? Frau Lehmann war überall zugegen. Sie wechselte hier ein paar Worte, stellte dort jemanden vor und kam schließlich auf Emilie zu, die still an der Kirchentür stand und das ganze mit immer größerem Unbehagen betrachtete.
„Emilie, mein Kind!“ Frau Lehmann lächelte. „Schau mal, wer dich kennenlernen will!“ Ihre füllige, schwarzgekleidete Gestalt trat zur Seite und Emilie sah einen kleinen, älteren Mann mit einer großen Nase, der zögernd auf sie zu trat.
„Guten Tag!“, sagte er freundlich und streckte ihr eine kräftige, abgearbeitete Hand hin.
„Guten Tag!“, erwiderte Emilie abweisend und ließ die Hand unbeachtet in der Luft hängen. Einen Augenblick starrte sie ihn an, dann drehte sie sich um und lief weg.
Wilhelmine hatte ihre Heiratskandidaten in der Kirche stehen lassen. Sie war in den Wagen geklettert, der mit ihren Habseligkeiten beladen immer noch vor der Kirche stand. Die Pferde waren weg, die Deichseln lagen auf dem Boden. Einsam stand der verlassene Wagen auf der Straße. Schluchzend wühlte die Mutter in Kleidern und Kisten und machte für jedes Kind ein Bündel zurecht. Als sie vom Wagen stieg, stand plötzlich Emilie vor ihr. Vorwurfsvoll und fassungslos schaute die Tochter der Mutter in die Augen. Ein paar lange Augenblicke sahen sie einander an. Emilie wollte Fragen stellen, doch in dem verzweifelten Gesicht der Mutter las sie schon die Antwort.
„Du gibst uns weg!“, sagte sie leise. Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Auch über Wilhelmines Gesicht rannen Tränen. Sie sah ihre Tochter fest an und nickte. Sprechen konnte sie nicht. Still trat sie auf Emilie zu und umarmte das Kind.
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