„Sie haben es den Kindern noch nicht gesagt, was?“, fragte er leise. Wilhelmine schüttelte nur stumm den Kopf. Wenn es nach ihr ginge, könnte die Reise ewig dauern.
Nachts wurde es empfindlich kalt. Die Reisenden machten ein Feuer an und verkrochen sich zum Schlafen im Wagen. Alle Decken, die sie hatte, breitete Wilhelmine über den zitternden Kindern aus. Von Ferne hörten sie die Wölfe heulen. Die Kleinen hatten große Angst vor ihnen. Die Mutter machte ihnen Mut, so gut sie konnte, aber auch sie fühlte sich von dem dünnen Wagenzelt nicht besonders geschützt. Mehr Sicherheit gab ihr das Lagerfeuer, welches die Männer die ganze Nacht unterhielten. Abwechselnd hielten sie Nachtwache. Das taten sie auch wegen der Wegelagerer, vor denen sie von Einheimischen gewarnt worden waren. Auch Wilhelmine wollte wachen, aber die Männer ließen es nicht zu. Dafür ruhten sie am Tage abwechselnd hinten im Wagen. Da, wo sonst drei Kinder schliefen, lag dann ein Mann und schnarchte. Paula, Selma und Eduard hockten daneben und sahen zu, wie sich der Schnauzbart zitternd bewegte. Einmal legte Paula eine kleine Daunenfeder auf Ottos prustende Lippen. Wenn sie in die Höhe flog, kicherten sie.
Emilie und Jacob streiften gern morgens und abends durchs Gelände. Sie sammelten Brennholz und erkundeten die Gegend. Otto und Albert mochten die Wälder nicht, obwohl es sich bei diesen nur um dürre Kiefern und spärliches Unterholz handelte. Sie waren in der weiten Budschaksteppe aufgewachsen und brauchten einen freien Blick bis zum Horizont, um sich wohlzufühlen.
Manchmal trafen sie zur Abendzeit auf kleine Ortschaften und konnten dort bei freundlichen Menschen ein Nachtlager bekommen. Für die Kinder war das alles ein einziges großes Abenteuer. Mal übernachteten sie im Wagen, mal in einer Scheune im duftenden Heu. Das roch so gut nach Sommer! Wo würden sie wohl diesen Sommer verbringen?
Die Fahrt verlief gut. Bald lagen die Waldgebiete hinter ihnen und sie fuhren nun meistens zwischen Wiesen und Feldern dahin. Im Sommer würden hier Mais, Weizen, Sonnenblumen und Tabak wachsen. In einer etwas größeren Stadt nahe der moldawischen Grenze deckten sie sich mit Vorräten ein. Hier gab es viele Geschäfte mit Verkaufsläden und einen Bahnhof. Die Kinder staunten über die großen Häuser. Sogar eine Burg lag auf einem Felsen.
„Wartet nur, bis wir nach Kischinau kommen!“, versprach Albert, „Da werdet ihr Augen machen!“
Das Wetter hatte ein Einsehen und brachte viel Sonnenschein. Fröhlich rollte der Wagen über glatte Wege, holperte über steinige Strecken und bewegte sich vorsichtig durch die Furten kleiner Flüsschen. Die Wegelagerer hatten so früh im Jahr anscheinend noch keine rechte Lust zum Wegelagern, die Reisenden blieben von dieser Prüfung verschont. Dafür wurden die Wölfe zu einem Problem. Wenn sie nicht in einem durch Zäune oder Dornenhecken geschützten Dorf übernachten konnten, hielten die Männer mit der Flinte Wache, denn die ausgehungerten Raubtiere kamen frech bis ans Feuer heran. Meistens vertrieb sie schon ein Schuss, allerdings wurden davon alle munter. Wilhelmine hatte dann Mühe, die Zwillinge zu beruhigen und Jacob daran zu hindern, mit dem Messer auf Wolfsjagd zu ziehen. Jacob hielt oft bis in die Nacht hinein mit Albert Wache, den er besonders ins Herz geschlossen hatte. Er genoss sichtlich die männliche Gesellschaft, ihm fehlte der Vater besonders.
‚Vielleicht bekommt er ja bald wieder einen‘, dachte Wilhelmine traurig. Sie hatte bis jetzt immer noch nicht den Mut gefunden, den Kindern von der wahrscheinlich bevorstehenden Trennung zu erzählen. Wilhelmine beschloss, es ihnen erst in Teplitz zu sagen. So konnten sie die Fahrt genießen und später an diese Zeit als eine schöne Erinnerung zurückblicken. Als sie so weit mit sich im Reinen war, entspannte sich Wilhelmine und fand nun auch Gelegenheit, sich an der Reise zu erfreuen.
Die Kinder wunderten sich indes, dass die Mutter mit ihnen in letzter Zeit so übertrieben fürsorglich umging und alles erlaubte. Sie schimpfte nie, herzte und küsste ständig alle und ließ kein Kind an sich vorüber, ohne es in den Arm zu nehmen und liebevoll zu drücken. Emilie fand dieses Verhalten befremdlich. Es störte sie, dass die Mutter den Kleinen alles durchgehen ließ. Paula nutzte diese Freiheiten nämlich für etliche dumme Streiche. Sonst war die Mutter immer recht streng gewesen und achtete stets auf gutes Benehmen. Jetzt lächelte sie nur milde, wenn Paula vorlaut war oder die Kleinen sich beim Essen gegenseitig beschmierten. Jacob entzog sich gern der mütterlichen Umklammerung und verbrachte viel Zeit mit den Männern. Emilie beobachtete das alles mit immer größerem Unbehagen. Irgendetwas stimmte nicht!
Vor Kischinau kamen sie durch Weinberge. Leider begann nun ein stetiger Nieselregen zu fallen, so dass die Reisenden missmutig im Wagen saßen und die schöne Landschaft um sich herum gar nicht recht würdigten. Als sie aber die Hauptstadt vor sich liegen sahen, hob sich die Stimmung. Sie hielten auf einem Hügel und überblickten das Häusermeer. So viele Gebäude! Die Kinder staunten und riefen „Ah“ und „Oh“.
„Na, was hab‘ ich euch versprochen?“ Albert Hanemann wies stolz mit einer weiten Handbewegung auf die Stadt, als habe er sie selbst erbaut. Obwohl es ein Umweg war, hatten sich die Männer dazu entschlossen, die sichere Strecke über die Hauptstadt zu nehmen. Der Dnister war ein großer Fluss, von dem man im Frühjahr niemals wusste, wie viele kleinere Brücken er überschwemmt hatte. Bei Tighina gab es eine sichere Brücke. Sogar eine Eisenbahnbrücke war im Bau. Bequem waren sie im Wagen über den reißenden Fluss gerollt. Nun standen sie also vor Kischinau. Otto Jaske konnte den Kindern einiges von der Stadt erzählen, denn er war schon öfter hier gewesen. Eine Lederfabrik gab es hier, die entsetzlich stank. Auch die Milchkühe der deutschen Bauern mussten am Ende ihres Lebens ihre Haut hier zu Markte tragen. In der Stadt standen schöne Kirchen und andere imposante Gebäude. Die Straßen waren von großzügigen Stadtplanern lang und breit angelegt worden. Auf etlichen Märkten gab es alles zu kaufen, was man sich nur vorstellen konnte. Von überall her kamen die Händler und boten ihre Waren feil. Wie gern hätte Emilie dort einen Bummel gemacht! Die Männer jedoch wollten sich hier nicht lange aufhalten, denn es zog sie nach Hause. Außerdem hatte es vor kurzem politische Unruhen in der Stadt gegeben, bei denen sogar Menschen ums Leben gekommen waren. Juden, wie man hörte. Aus solcherlei Konflikten hielten sich die Bauern lieber heraus, deshalb ließen sie die Stadt jetzt hinter sich und rollten weiter Richtung Südosten. Gut die Hälfte der Strecke hatten sie bewältigt, und zwar die schwierigere. Schwieriger deshalb, weil das Gelände unwegsam und hügelig war und weil die Männer sich nicht auskannten. Südlich der Hauptstadt begann langsam die heimische Steppenlandschaft. Nun ging es auf öfter benutzten Wegen weiter.
„Die Pferde wittern Stallduft!“, behauptete Albert fröhlich, dabei hatte er selber Heimweh. Vielleicht hatte seine Frau schon das Baby bekommen? Mit jedem Tag, an dem sie gute Fahrt machten, wurden die Männer ungeduldiger. Sie wollten heim zu Frau und Kind, zu Hof und Feld.
Ottos Geschäfte waren gut verlaufen und er war zufrieden. Wenn er heim kam, wartete viel Arbeit auf ihn. Die junge Frau an seiner Seite tat ihm ein bisschen Leid. Sicher, es war üblich, dass eine Witwe wieder heiratete und ihre Kinder in Vormundschaft geben musste. Aber meistens waren es Verwandte, die sich der Kinder annahmen, oder sogar der neue Ehegatte. Wilhelmine unterhielt sich gern mit Otto Jaske. Er flößte ihr mit seiner ruhigen, bedächtigen Art Vertrauen ein. Außerdem tat ihr die Fürsorge gut, die der ältere Mann ihr angedeihen ließ.
Er achtete zum Beispiel darauf, dass sie am Lagerfeuer weich saß und nicht fror, nahm ihr öfter Arbeiten ab und bemerkte, wenn sie müde war.
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