Er zeigte ihr dann ein Bild von einem Mann mit einem komischen Bart, der auch sehr streng guckte. Als sie erschrak, beruhigte er sie.
„Der tut dir nichts. Der hilft dir. Der hilft uns allen. Ganz bestimmt.“
Und er schenkte ihr einen Apfel.
Das musste wohl so sein, denn ihr Vater hörte auf einmal auf zu trinken. Er kümmerte sich sogar ab und zu um den Hof, ging selbst aufs Feld oder in den Stall. Abends war er meistens bei irgendwelchen Versammlungen. Und wenn er spät nach Hause kam, war er nicht betrunken, aber begeistert. Was er sagte, verstand Elisabeth nicht. Aber dass alles besser werden würde, das spürte sie jetzt schon.
Eines Abends blieb er tatsächlich nach dem Abendbrot zu Hause.
Er ging ins Schlafzimmer, zog die unterste Schublade der Kommode auf und kam mit dem Familienstammbuch in die Küche zurück.
Er schob mit der Hand das Geschirr zur Seite, breitete ein großes Blatt Papier aus, beschwerte die Ecken und begann mit der Arbeit.
Sie schien schwierig zu sein. Immer wieder sah er im Familienstammbuch nach, blätterte einzelne Seiten um, übertrug Namen und Geburtsdaten auf das Papier, überprüfte, radierte und begann von neuem.
„Sag mal, hast du noch Unterlagen über deinen Ur-Urgroßvater?“, wandte er sich an seine Frau, die ihm verständnislos über die Schultern sah.
„Mir fehlen noch zwanzig Jahre“, ergänzte er.
„Zwanzig Jahre? Woran fehlen dir zwanzig Jahre?“, wollte Friederike wissen,
öffnete die kleine Truhe neben dem Herd, entnahm ihr das Strickzeug und setze sich auf die Bank.
„Alles, was ich hab’, steht in dem Buch“, sagte sie und wandte sich ihrer Handarbeit zu. Nachdem sie die Maschen gezählt hatte, hörte man nur noch das gleichmäßige Klappern der Stricknadeln.
Plötzlich hielt sie inne.
„Ist das wichtig?“, unterbrach sie ihre Tätigkeit.
Ludwig von Wernher verstand nicht.
„Na, das mit den zwanzig Jahren?“
„Ich weiß nicht. Es wäre aber besser. Bei mir bin ich bis 1737 gekommen. Bei dir nur bis 1770. Zwanzig Jahre fehlen bis 1750. Aber vielleicht wollen sie es nicht unbedingt wissen.“
Wieder vertiefte er sich in seine Zeichnung.
Er bemerkte gar nicht, dass Elisabeth die Küche betreten hatte und ihm zusah. Erst als sie fragte: „Darf ich?“, sah er auf.
Zum ersten Male sah er seine Tochter freundlich an.
„Komm, setz dich zu mir. Da kannst du gleich was lernen. Für das Leben, nicht nur so’n Quatsch für die Schule.“
Eigentlich hätte er seine Tochter jetzt in die Geheimnisse der Genealogie einweihen können, aber dazu hatte er nicht die Zeit. Jetzt jedenfalls nicht.
„Sieh hier, das sind deine Mutter und ich. Und die da, die sind deine Großeltern, die väterlicherseits und die mütterlicherseits. Und so verzweigt sich das immer weiter.
Von all diesen Ahnen stammst du ab.“
Elisabeth staunte.
„Und warum machst du das?“
Einen Augenblick zögerte ihr Vater. Eigentlich wollte er die Familie erst unterrichten, wenn sein Antrag angenommen war. Doch jetzt, als seine Tochter ihn fragte und seine Frau ihn erwartungsvoll ansah, hielt er es doch nicht aus. Er musste sein Geheimnis offenbaren. Er wäre daran erstickt.
„Ich geh zur SA“, sagte er.
Friedrichshagen, 1933
Die folgenden Jahre waren die glücklichsten im Leben Elisabeths. Ihr Vater war während der Woche bei der Arbeit, wie die Mutter sagte. Welche Arbeit das war, wusste Elisabeth nicht. Als sie mal danach fragte, sagte man ihr nur, es sei eine ganz wichtige Arbeit. Der Vater passe auf, dass keine Verräter den Führer und seine schwierige Arbeit bedrohten. Und sie könne stolz darauf sein, so einen Vater zu haben. Nur wenige Kinder hätten solch einen Vater. Denn der Führer wähle sehr streng aus, wer ihm dienen dürfe.
Das sagte auch ihr Lehrer.
Elisabeth schwoll das Herz vor Stolz.
Nur einmal kam sie zornentbrannt nach Hause.
Der Lehrer hatte am Beispiel ihres Stammbaums deutlich gemacht, wie wichtig es sei, einen reinen Stammbaum zu haben und darauf zu achten, dass er nicht durch artfremdes Blut beschmutzt würde.
Da war der Hans Isert aufgesprungen.
„Das ist doch alles Quatsch! Reines Blut! Unreines Blut! So ein Blödsinn!“, hatte er in die Klasse gerufen, seinen Stammbaum zerrissen und auf die Erde geworfen.
Zehn Stockschläge hatte er dafür bekommen. Doch er hatte nicht geweint.
Als Elisabeth das ihrer Mutter erzählte, meinte sie nur: „Das musst du morgen deinem Vater erzählen, wenn er wieder nach Hause kommt.“
Noch am Sonnabend wurde Herr Isert abgeholt.
Man hätte ihn schon lange im Verdacht gehabt, sagte ihr Vater.
Trotzdem, so ganz wohl fühlte sich Elisabeth nicht in ihrer Haut. Natürlich hatte Hans selbst Schuld, wenn sie seinen Vater abgeholt hatten, aber irgendwie kam sie sich doch ein klein wenig schuldig vor. Sie hatte gepetzt. Und Herr Isert war abgeholt worden.
Nach ein paar Tagen war er wieder frei. Er war kaum wieder zu erkennen. Wenn jemand auf ihn zuging, wich er aus oder ging gar auf die andere Straßenseite.
Seine Arbeit hatte er verloren.
„Isert“, hatte sein Chef gesagt, „Sie wissen, dass ich Sie immer geschätzt habe, aber ich kann Sie nicht mehr beschäftigen. Man hat es mir unmissverständlich klar gemacht. Versuchen Sie es doch in Berlin.“
Wenn Frau Isert in den Kolonialwarenladen Hencke & Sohn kam, verstummten die Gespräche, und sie wurde nicht bedient, auch wenn sie an der Reihe war.
Einmal sagte Frau Hencke, als niemand sonst im Laden war: „Ich würde Sie ja gerne weiter bedienen, ich habe wirklich nichts gegen Sie. Und Sie können ja auch nichts für Ihren Mann. Aber mein Mann hat es mir verboten.“
Hans Isert musste sich auf eine einzelne Bank in der hintersten Ecke des Klassenraumes setzen. Niemand sprach mit ihm. Auch nicht sein bester Freund. Er sah ihn nicht einmal mehr an.
In den Pausen blieb Hans im Klassenraum. Aus Angst, verprügelt zu werden. Erst hatte der Lehrer ihn auf den Schulhof geschickt, doch dann hatte er Mitleid.
„Er hat das zu Hause gelernt. Dafür kann er nichts. Und sein Vater hat sich wohl gebessert, habe ich gehört.“
Zwei Wochen später verließ die Familie Friedrichshagen. Sie wollte nach Berlin ziehen, hieß es. Ob sie es wirklich tat, wusste keiner. Man fragte auch nicht nach. Es war schließlich nicht wichtig. Und man wollte sich auch keine Unannehmlichkeiten schaffen.
***
Viel interessanter waren die Bauarbeiten in Oranienburg.
Keiner wusste Genaueres. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man, es sollte ein Rüstungsbetrieb angesiedelt werden. Andere vermuteten ein Umerziehungslager.
Über eins wenigstens war man sich einig. Die Baustelle würde viele Arbeiter brauchen. Und da würde man sich bewerben können.
An einem warmen Spätsommertag versuchten zwei Freunde ihr Glück. Sie kamen nur bis zum Zaun. Drei SS-Männer traten ihnen entgegen, nahmen sie in ihre Mitte und brachten sie in die erste fertig gestellte Baracke.
Sie wurden in einen gestreiften Drillich gesteckt und einem SS-Mann übergeben, der einen Trupp Häftlinge beaufsichtigte.
Am nächsten Abend wurden sie zur Lagerleitung kommandiert.
An einem Schreibtisch saß ein Untersturmführer. Die Füße hatte er auf die Tischplatte gelegt, die Mütze tief ins Gesicht geschoben. Er schien zu schlafen.
Unschlüssig standen die Männer vor dem Schreibtisch, da bewegte sich der Mann.
„Ist euer Wissensdurst gestillt, oder möchtet Ihr noch etwas bei uns bleiben?“, fragte er.
Er nahm einen Aktendeckel vom Schreibtisch, schlug ihn auf und entnahm ihm einen Zettel. Lange sah er darauf, legte seine Stirn in Falten und fixierte die beiden.
„Wenn Ihr noch einmal neugierig seid, kommt Ihr hier nicht vor zwei Jahren raus, das verspreche ich Euch. Und nun haut ab!“
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