1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Leichter gesagt als getan. Wie soll man sich verhalten, wenn man erfährt, dass die Menschen, die man über zwanzig Jahre für seine Eltern gehalten hat, gar nicht die leiblichen Eltern sind? Wer ist man, wenn sich herausstellt, dass die eigene Mutter entführt und Monate lang von einem gewissenlosen Menschen gegen ihren Willen festgehalten worden ist? Wie soll man verarbeiten, dass die eigene Mutter ihr Leben gegeben hat, um einem Baby das Leben zu schenken – einem Baby, das man selber ist?
Na klar, Märit und Hermann Strandt sind ihre Eltern, aber sie haben die Rolle nur angenommen. Es schmerzt sehr, diese lieben Menschen nun nur noch als Adoptiveltern zu sehen und über die wahre Abstammung, den ursprünglichen Familiennamen sowie den richtigen Geburtsort Bescheid zu wissen.
Dazu kommt noch die Tatsache, dass ausgerechnet der Mann, mit dem man sich hat vorstellen können alt zu werden, mit dem Mörder der leiblichen Eltern verwandt ist und ganz ungeahnte Seiten hat. Es macht es nicht besser, dass man diesen Mann über alles liebt.
„Wirst du eine Therapie machen?“ fragt Sanna weiter. „Oder reicht es mit den drei Pflichtbesuchen?“
Lotta zuckt mit den Schultern. So genau hat sie sich das noch gar nicht überlegt. Die vergangenen Wochen sind so schnell vorbeigeflogen, dass sie kaum eine ruhige Minute für sich und ihre Gedanken gehabt hat. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass man als Zeugin vor Gericht geladen wird, die kläglichen Überreste der eigenen Mutter persönlich aus der Pathologie abholt und kirchlich bestatten lässt oder seinen Traumberuf in ernsthafter Gefahr sieht.
„Ich habe ihr gesagt“, antwortet Lotta leise, „dass ich mich nach dem Urlaub entscheiden werde. Dann weiß ich auch, ob ich noch ein zusätzliches Problem behandeln lassen muss.“
„Liebeskummer kannst du vermeiden“, erwidert Sanna sachlich. „Er ist ein so netter Kerl, wirklich, ich mag ihn. Und seinen Kumpel, den Sebastian, auch.“
„Ja“, seufzt Lotta leise, „er und Basti sind große Klasse. Aber darum geht es ja gar nicht. Es geht darum, dass ich innerlich total verkrampfe, wenn Moritz mir nahe kommt. Erinnerst du dich an das Wochenende im Februar?“
„Als du nach seinen Prüfungen zu ihm nach Bremen gefahren bist?“
„Genau. Ich wollte ihn umarmen und ihm gratulieren – ausgezeichnet in Sport und hervorragend in Mathe – aber ich konnte nicht. Ich stand plötzlich wie eine Salzsäule da, sodass er mich umarmen musste. Ich habe die ganze Zeit über die Zähne zusammenbeißen müssen um nicht loszuschreien.“
„Warum sagst du mir das erst jetzt?“
Sannas Stimme klingt geschockt und ehrlich besorgt. Ihre grauen Augen haben einen feuchten Schimmer, während sie vorsichtig eine Hand über den Tisch streckt und sie nur Millimeter von Lottas überschlagenen Beinen in der Luft schweben lässt.
„Therapie-Erfolg“, antwortet Lotta mit einem schiefen Lächeln. „Nein, absolut keine Ahnung. Es ging einfach nicht.“
„Und jetzt der Urlaub? Wirst du fahren?“
„Wir haben es Maja versprochen“, seufzt Lotta leise. „Basti fährt auf jeden Fall, ist ja klar. Aber auch Moritz und ich haben zugesagt. Majas Großvater feiert immerhin die stolze Zahl von fünfundneunzig Jahren.“
„Und diese kleine Insel“, ergänzt Sanna leise und beinah wehmütig, „die klingt so idyllisch. Björkö, das hat was mit Bäumen zu tun, nicht wahr?“
„Birkeninsel“, nickt Lotta. „ Björk bedeutet auf Schwedisch ‚Birke‘ und ö ‚Insel‘. Es muss richtig romantisch dort sein, jedenfalls den Fotos nach zu schließen, die Maja gezeigt hat. Sie liegt gut anderthalb Stunden mit der Fähre von Stockholm entfernt in den Schären.“
„Eine Birkeninsel mitten in der Ostsee“, grinst Sanna, „das klingt wirklich sehr romantisch. Ich wette, dort gibt es auch so einen riesigen Bernhardinerhund wie bei der Kinderserie von Astrid Lindgren, die wir früher im Fernsehen gekuckt haben, erinnerst du dich?“
„Bootsmann“, nickt Lotta. „Ja, so hieß der Hund. Aber, nein, laut Maja gibt es auf Björkö nur zwei oder drei Katzen, einen Scotchterrier und einen Labrador.“
„Das klingt ja so, als ob du fahren wirst.“
„Du hättest Maja hören sollen. Sie hat so geschwärmt, dass wir gar nicht anders konnten als zusagen. Es gibt dort keine Autos, dafür einen Hektar unberührten Birkenwald, zwei Sandstrände und einen Kiesstrand, fünf ständig bewohnte Häuser, zwei Wochenendhäuser und sechs kleine Ferienhäuser sowie eine vorgelagerte kleine Privatinsel mit einem Haus darauf. Das Haus von Majas Großvater liegt auf der Hauptinsel in der Westbucht mit Blick aufs Wasser.“
„Auf, hin da!“
Sanna kichert leise und löffelt den letzten Schaumrest aus ihrem Glas, während Lotta sich plötzlich bewusst wird, dass sie ihre Entscheidung getroffen hat. Sie wird fahren. Und sie wird versuchen, nett zu Moritz zu sein, auch wenn er es eigentlich nicht verdient hat; schließlich ist es seine Schuld, dass sie von diesen schrecklichen Alpträumen geplagt wird. Wenngleich es ihr schwerfällt, hat sie das Gefühl, dass es ihm leidtut, selbst er keinen Ton verloren hat – über jene Sache. Ob sie ihm verzeihen kann, wird sich zeigen.
Sie muss es versuchen. Sie muss auf Doktor Rosenberg hören und versuchen, sich ihm wieder zu nähern und sich an seine Gegenwart zu gewöhnen. Sie will ihn nicht verlieren, weil sie genau weiß, dass dies ihre letzte Chance ist, sich selbst eine glückliche Zukunft zu schaffen. Denn – so seltsam es erscheinen mag – die Alternative, eine Leben ohne Moritz, ist etwas, über das sie keinesfalls nachdenken will.
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Polarwolfan Eiswolf
Betreff: Partyplanung.
Endlich ist es soweit, die große Feier soll stattfinden. Details folgen. Bist du dabei?
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Es war ein Schmerz, wie er noch nie einen gefühlt hatte. Dagegen waren sogar die Zigaretten geradezu eine Erholung gewesen. Ahmed wollte schreien, doch das Klebeband auf seinem Mund unterdrückte selbst sein gepeinigtes Stöhnen. Er presste die Augen zu und betete zu Allah, dass er ihn erlösen möge.
Doch Allah hörte nicht. Wahrscheinlich war er gerade anderswo beschäftigt und konnte sich nicht um einen unnützen Jungen wie ihn kümmern, der noch dazu ungezogen gewesen war. Warum nur hatte er die Mathematikstunde, die letzte des Tages, geschwänzt und war stattdessen ziellos durch die grauen Straßen geschlendert? Was hatte es ihm gebracht; die Mathearbeit würde er dann eben in der zweiten Stunde morgen erhalten und dem Vater zur Unterschrift vorlegen müssen. Warum war er nicht in den Park gegangen? Warum nur hatte er das alte Fabrikgelände betreten und diese verdammte Tür geöffnet? Was hatte ihn bloß dazu getrieben, die heruntergekommene Lagerhalle zu betreten und sich zwischen den Ersatzteilen auf die dicken Autoreifen zu setzen?
Allah hatte ihn geführt, das war Ahmed schlagartig klar gewesen, als plötzlich die beiden Männer hereingekommen waren. Sie hatten sich leise unterhalten. Ihre Worte hatten zunächst gar keinen Sinn ergeben. Hatten sie wirklich von einem ‚Austernfischer‘ gesprochen, als es um die Planung einer Party ging?
Er hatte sein Smartphone aus der Tasche gezogen, um das Wort zu googlen. Wahrscheinlich hatte er sich verhört. Doch anstatt des Browsers hatte er die Kamera gestartet, die noch vom Vormittag auf dem Schulhof auf ‚Video‘ stand.
Er hatte gefilmt und versucht, die Gesichter der Männer zu erkennen, doch sie standen seitlich zu ihm, sodass er nur ihre athletischen Silhouetten hatte sehen können. Er hatte gelauscht und es zunehmend mit der Angst bekommen.
Denn das, was die beiden da diskutierten, bedeutete, dass nicht nur einige ‚Saukerle‘, ein ‚verdammter Mistkerl‘ und eine Frau namens Amal, sondern auch Cousin Abdul an seinem Arbeitsplatz alles andere als sicher sein würden.
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