1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Warum von ‚Maskerade‘ und ‚Abstimmung‘ die Rede war, hatte er nicht verstanden; dafür war aber deutlich zu verstehen, dass etwas Wichtiges an einem bestimmten Ort versteckt werden würde und dass jemand mit Namen Charly dabei sein würde.
Die Kamerafunktion hatte automatisch gespeichert, als sich plötzlich der Bildschirm verdunkelt und der Energiespar-Modus eingeschaltet hatte. Der helle Pieps-Ton war ihm durch und durch gegangen.
Dass die beiden Männer ihn erwischt hatten, war abzusehen gewesen, auch wenn er es noch fast bis zur Tür geschafft hatte. Alles, was danach geschehen war und an das Ahmed sich nur noch wie durch einen Vorhang aus grau-rotem Nebel erinnerte, war jenseits aller Vorstellungskraft. Genau wie dieser Schmerz, der sich nun von der Stelle zwischen seinen Beinen bis in jeden kleinsten Zipfel seines Körpers ausbreitete.
Ahmed spürte, wie seine Beine nachgaben und er unaufhaltsam dem Boden entgegen rutschte, sodass seine mit Klebeband befestigten Arme von seinem eigenen Gewicht schmerzhaft in die Länge gezogen wurden. Seine Schultern drohten aus den Gelenken zu springen, als er am ganzen Körper zitternd und wie von Millionen von glühenden Nadeln gestochen in sich zusammen sank.
Der Mann vor ihm stellte wieder eine Frage. Er fragte und fragte. Eine Frage nach der nächsten. Es war immer dieselbe. Wieder und wieder. Seit Stunden schon, einer Ewigkeit. Es war die Frage, auf die Ahmed keine Antwort wusste.
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Der Dozent wirft die letzte Seite seiner PowerPoint-Folien an die Wand. Moritz Guth erkennt eine komplizierte Integralfunktion mit mehreren, fett und rot hervorgehobenen „x“-Werten. Der Dozent erklärt etwas, das nicht bis zu Moritz durchdringt, auch wenn er nur kaum viereinhalb Meter entfernt in der dritten Reihe des Hörsaals sitzt.
Doch es ist genau wie in den vergangenen vierzig Minuten. Die Gedanken von Moritz haben nichts mit Mathematik zu tun; vielmehr drehen sie sich um eine zierliche junge Frau mit kurzen kastanienbraunen Locken und den passenden haselnussbraunen Knopfaugen dazu: Carlotta Strandt, seine Lotta.
Er vermisst sie, und zwar so, dass es schon fast weh tut. Er vermisst sie, ihre Stimme, ihre Gegenwart. Er kann es kaum erwarten, sie in zwei Tagen endlich wieder zu sehen.
Gleichzeitig fürchtet er sich jedoch auch vor diesem Wiedersehen. Nur zu gut kann er sich noch an Freitag vor vier Wochen erinnern, als er Lotta in Hamburg besucht hat. Im Nachhinein hätte er eigentlich auch gleich zuhause bleiben können, da er schon am Samstagmittag den Metronom zurück nach Bremen nehmen musste.
Er weiß, dass es viele Dinge gibt, die seine Noch-Freundin derzeit belasten. So abweisend und verkrampft wie an jenem Freitagabend ist sie jedoch bisher nie gewesen. Oder hat er es nur nicht bemerkt?
Geistesabwesend malt Moritz Kringel auf seinen karierten Ringblock, während er weiterhin nichts von den Worten des Dozenten mitbekommt. Lotta hat sich verändert, zumindest ihm gegenüber. Wie sie sich bei ihrer Arbeit verhält, kann er nicht beurteilen. Dort ist sie wahrscheinlich ganz gefasst und professionell die vielversprechende junge Polizeikommissarin im Dienste der Stadt Hamburg.
Nachdenklich runzelt Moritz die Stirn und fühlt das schmerzhafte Krampfen in seinem Magen. Wenn nicht beruflich, dann ist es etwas Privates, das Lotta so anders gemacht hat, dass er geradezu Angst bekommt. Ob sie ihn überhaupt noch liebt? Oder bildet er sich das alles nur ein? Hat Lotta sich vielleicht gar nicht geändert?
Aber auch ihre beste Freundin Susanna Eberhardt, die er zu Beginn des Jahres kennen gelernt und seitdem an jedem Wochenende wie ein drittes Rad am Wagen empfunden hat, scheint eine Veränderung an Lotta bemerkt zu haben. Ob sie weiß, was dahinter steckt?
Frauen reden doch über alles. Vielleicht wäre es eine Idee, Susanna anzurufen und nach dem Grund für Lottas Veränderung zu fragen? Andererseits, sie wird vermutlich loyal sein und schweigen. Da wäre es einfacher, Lotta direkt zu befragen – auch auf die Gefahr hin, dass sie sich in einen kaum aufzuhaltenden Zimmerbrunnen verwandelt. Und hat er nicht geschworen, dass er ihr niemals wehtun wird und sie wegen ihm keine Taschentücher braucht?
Besorgt stellt Moritz fest, dass die Kringel auf seinem Block zunehmend Fragezeichen sind. Er weiß nicht weiter. Nicht einmal mit seinem besten Freund Basti hat er über diese Sache sprechen können. Ein zaghafter Versuch kurz nach dem besagten Samstag, an dem er vorzeitig zurückgefahren ist, um Lotta von seiner ihr offenbar höchst unangenehmen Gegenwart zu befreien, hat kein Ergebnis geliefert und ihn mit noch mehr Fragen zurückgelassen.
Er weiß genauso gut wie Basti, dass Lotta beruflich Ärger hat. Dann ist da dieser Strafprozess, der sie alle drei belastet, wenn auch Lotta am meisten betroffen ist. Aber warum ist sie ihm gegenüber so abweisend, ja, beinah schreckhaft und wie in dauernder Habt-Acht-Stellung?
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Polarwolfan Eiswolf
Betreff: Partyplanung.
Wetteraussichten gut, Sonne 23 Grad, nachts 4 Grad. Bier bestellt.
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Nachdenklich lehnt Ludmilla Zettergren am Türrahmen und starrt zum Fährsteg hinüber. Hinter den Lindholm-Kindern, die laut lachend und schwatzend mit ihren Rucksäcken schief über der Schulter den Weg über die glatten flachen Felsen herauf kommen und die freudig mit der Rute wedelnde Labradorhündin Ronja begrüßen, schlurft, den Rucksack ordentlich auf dem Rücken, Kim.
Der Junge scheint nachdenklich oder bedrückt zu sein, jedenfalls kommt er mit gesenktem Kopf an Land, bevor die kleine bewegliche Gangway eingeholt wird und das Schiff mit leise rasselndem Motorengeräusch ablegt und in Richtung der drei Kilometer entfernten Schäreninsel Ekholm in Südsüdost davontuckert.
„ Hej !“ ruft Ludmilla, als Kim ohne ein Wort an der Treppe zur Ladentür vorbei gehen will. „Willst du mir gar nicht guten Tag sagen?“
„ Hej “, murmelt Kim ohne aufzusehen und will weitergehen, aber Ludmilla eilt die Treppe hinunter und hält ihn an seinem schmalen Arm fest. Seine dunklen Augen weiten sich überrascht und ein bisschen erschrocken. Es tut weh, das fein geschnittene Kindergesicht mit den beinah schwarzen Augen so zu sehen.
„Was ist denn los, Kim?“ fragt Ludmilla leise, wobei sie das leichte Zittern in ihrer Stimme kaum verbergen kann. „Hast du Kummer?“
Der Junge wirft ihr einen scheuen Blick zu, bevor er langsam den Kopf schüttelt und sich loszumachen versucht. Seufzend gibt Ludmilla seinen Arm frei, streicht ihm vorsichtig über das glänzende schwarze Haar und die blasse Wange und zwingt sich zu einem ungezwungenen Lächeln.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann“, sagt sie leise, „dann sagst du mir das, ja? Wozu hat man schließlich eine Großmutter?“
Kim reagiert nicht, sondern wendet sich wortlos um. Bevor er sich jedoch auf den Weg zu Carinas und Christers Haus macht, kann Ludmilla ihn noch leise ein paar Worte sagen hören. Da er dabei nuschelt, ist sie sich nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hat. Was hat der Junge bloß mit ‚Austern-fischer‘ gemeint? Wer oder was ist ‚Nummer Zwei‘? Was haben ‚Bernstein‘ und ‚Odin‘ miteinander zu tun? Und was, in aller Welt, ist denn ein ‚Kreuzrad‘?
Bevor sie ihn fragen kann, ist Kim schon den sandigen Weg hinüber zum Haus seiner Eltern gelaufen. Ludmilla hört die Vordertür mit dem Fliegengitter leise zufallen. Sehen kann sie weder Kim noch das Haus, das hinter dem V-förmigen Birkenwäldchen mit den Brombeerhecken auf der Nordseite der Schäreninsel steht, auch wenn es bis dorthin kaum zweihundert Meter sind. Der Schatten unter den schlanken Bäumen ist um diese Jahreszeit noch zu tief; erst kurz vor Mittsommer, wenn die Sonne am höchsten steht, fallen Lichtstrahlen durch die dicht an dicht stehenden Bäume und lassen die rote Wand von Gustafssons Haus ‚ Livslust ‘ – Lebenslust – erahnen.
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