Innerlich betend, dass die deutsche Wehrmacht den Anstand besaß, die Regeln auf See zu respektieren und nicht den menschenverachtenden Gerüchten über die in Berlin regierenden Nationalsozialisten Brennstoff zu liefern, eilte Jasper zurück zu Sven-Ove, der stöhnend das Ruder hielt. In den wenigen Sekunden, die er brauchte, fuhren ihm erneut Esthers Worte durch den Sinn.
‚ Die Nazis‘, hatte die zierliche, dunkel gelockte Frau mit den großen veilchenblauen Augen gesagt, ‚grenzen systematisch aus, wenn man nicht in ihr Weltbild passt und nicht zu ihnen gehört. Zuerst haben sie das mit ihren politischen Gegnern gemacht, jetzt sind alle die dran, die sich nicht ihrer Ideologie unterordnen. Ich fürchte, wenn es mit dem Krieg so weitergeht, dann werden sie auch nicht davor zurückschrecken mehr zu machen als ausgrenzen. Ich bin so froh, dass ich hier bei euch sein kann.‘
Diese Worte und die Berichte aus dem englischen Radio hatten dazu geführt, dass die vier Freunde sich entschlossen hatten, ihre gemütliche Schäreninsel nahe Stockholm zu verlassen und sich im Süden des Landes dem Netzwerk anzuschließen. Solange es notwendig und Torges Schiff fahrtauglich war, würden sie helfen, Leute wie Esther und Judith und andere gefährdete Personen vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Das hatten sie geschworen, damals als Esther zu ihnen nach Björkö gekommen war.
Keine drei Jahre war es her, dass Torge die faszinierend schöne junge Frau in der Hansestadt Hamburg getroffen hatte, wo er als Matrose auf einem Schiff seiner Majestät König Gustav V. eine kurze Zwischenstation gemacht und die Stadt mit ihrer berühmten Amüsiermeile erkundet hatte.
Dass ihm auf dem Rückweg zum Schiff ausgerechnet diese zierliche junge Frau quasi vor die Füße gefallen war, grenzte schon an ein Wunder, das nur dadurch übertroffen wurde, dass er sie nach einem Jahr des Briefeschreibens in einer Nacht-und-Nebelaktion mitsamt ihrer Schwester Judith zu sich nach Schweden geholt hatte. Die Heirat mit Esther war danach zu erwarten gewesen, so sehr sich Sven-Ove und Rasmus auch um sie bemüht hatten – für sie gab es niemand außer Torge. Selbst ihre Schwester Judith war anfangs ganz im Bann von Torges Charme gewesen, den Jasper nur mit viel Geduld und sehr behutsam hatte aufbrechen können. Auch wenn sie zugegebenermaßen kaum halb so viel Liebreiz besaß wie Esther, so war jedoch Judith für ihn die Frau, die er sich für den Rest seines Lebens an seiner Seite vorstellen konnte. Bisher hatte er sich jedoch nicht getraut, sich ihr zu offenbaren. Was, wenn sie seine Gefühle nicht erwiderte? Andererseits musste sie bemerkt haben, wie er in ihrer Gegenwart zu stammeln begann und sich sein Puls beschleunigte. Warum sonst schenkte sie ihm immer ein Extra-Lächeln, wenn sie sich begegneten?
Einen Moment ganz in seinen Gedanken an ihre schönen kornblumenblauen Augen in dem blassen, ebenmäßigen Gesicht unter kohlrabenschwarzen Locken versunken, bemerkte Jasper nicht, wie Sven-Ove sich krampfhaft bemühte, das Ruder herumzureißen und das Großsegel aus dem Wind zu nehmen.
„ Was ist denn?“ schimpfte er und rammte Jasper den Ellenbogen in die Seite. „Träum nicht, sondern hilf mir lieber. Hast du Rasmus nicht gehört?“
Jasper zuckte zusammen und realisierte erst jetzt, dass sowohl Rasmus als auch Torge wild gestikulierend voraus deuteten, wo die weiß schäumenden Wogen gegen mehrere seltsame dunkle Umrisse klatschten.
Der Bug war kaum drei Schritt weit von dem ersten Ding entfernt, als Jasper begriff, um was es sich handelte. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, Sven-Ove zu helfen. Nur einen Augenblick später drückte eine Windböe sie nach Südwest und damit an den matt schwarz glänzenden Wasserminen vorbei. Sie hatten die Grauzone, den Sperrgürtel vor der deutschen Bucht, und damit den Treffpunkt erreicht. Doch außer ihnen war kein einziges Schiff weit und breit zu sehen.
*****
Unruhig wandert Moritz auf und ab. Der Vorraum der Mensa ist um diese Zeit beinah menschenleer. Einige wenige Nachzügler schlurfen durch den Eingang in Richtung ihrer Vorlesungen und Seminare davon, während von Basti keine Spur zu entdecken ist. Dabei nutzen sie schon seit Anfang des Semesters die Lücke in ihrer beider Curriculum, um in Ruhe und nach dem großen Ansturm zu essen.
Ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tretend, bleibt Moritz in der Tür stehen und wirft erwartungsvolle Blicke hinaus in den Basti-freien Innenhof. Er ist kurz davor, sein Smartphone aus der Tasche zu holen und seinem besten Freund eine erneute Nachricht auf die Mailbox zu sprechen. Doch da sieht er endlich den ersehnten blonden Wuschelkopf um die Ecke biegen.
„Hey, sorry“, ruft Basti schon von weitem, „musste ewig auf Professor Heyse warten wegen meiner Versuchsreihe. Lebst du noch?“
„Gerade so“, murmelt Moritz mit einem schiefen Grinsen und hält Basti die Tür auf. „Hoffe, es ist noch Lasagne da.“
„Oh ja“, seufzt Basti, „ich habe einen Mordshunger. Ach, übrigens, Maja wird uns am Flughafen abholen. Wir fahren dann mit dem Auto eines Wochenendbewohners von Björkö, der am Flughafen arbeitet, zum Fährhafen.“
Moritz nickt, während er sich einen Teller mit Lasagne füllt und zur Kasse geht. Er überlegt kurz, ob er Basti in seine Überlegungen um Lotta weiter involvieren soll; nach einem prüfenden Blick auf seinen besten Freund, der in Vorfreude auf Maja regelrecht leuchtet, entscheidet er sich dagegen. Stattdessen nimmt der Vorsatz, Lottas beste Freundin anzurufen und um Rat zu bitten, mehr und mehr Gestalt in ihm an.
Es dauert jedoch noch bis zum Ende der freien Zeit vor dem nächsten Kurs am Nachmittag, bis er sich dazu durchringt, mithilfe seines Smartphones nach der Nummer der Werbeagentur zu suchen, in der Susanna Eberhardt arbeitet. Kurz vor Beginn des Kurses wählt er und lässt sich zu Sanna durchstellen. Sie ist kurz angebunden, offenbar sehr gestresst, gibt ihm aber doch ihre Mobilnummer und bittet ihn, sich am Abend nach einundzwanzig Uhr noch einmal zu melden.
„Okay“, antwortet Moritz, stellt dann aber doch die Frage, die ihm seit Wochen Sorgen bereitet: „Weißt du, was mit Lotta los ist?“
„Uh“, macht Sanna entrüstet, „das musst ausgerechnet du fragen? Was hast du denn mit ihr gemacht?“
Moritz ist perplex und kann einen Moment lang nicht antworten. Aber er spürt, wie sich Wut und Empörung in ihm aufzutürmen beginnen; dahinter ist jedoch noch etwas anderes: Angst. Was weiß Sanna, das er nicht weiß?
Ein leiser Ton sagt ihm, dass Sanna das Gespräch beendet hat. Sprachlos starrt Moritz auf das abgedunkelte Display seines Smartphones, auf dem ein Foto von Lotta zu erkennen ist: einen Tag vor Weihnachten auf Borkum, strahlend und mit leuchtenden haselnussfarbenen Augen. Damals ist noch alles in Ordnung gewesen. Im Nachhinein klingt es beinah wie ein Märchen, dass Moritz sich für einen Augenblick fragt, ob es wirklich geschehen ist.
Ein Räuspern und das Verstummen seiner Kommilitonen ringsum zeigt ihm an, dass Professor Rickenstorff seine Vorlesung beginnen möchte. Moritz schluckt und seufzt leise, während er Stift und Collegeblock aus seiner Umhängetasche zieht und sich startklar macht. Doch, obwohl Rickenstorff ein guter Redner ist und selbst trockene Theorie gut zu vermitteln vermag, fällt es Moritz heute schwer sich zu konzentrieren.
Die gesamte Vorlesung über drehen sich seine Gedanken einzig und allein um Lotta, sodass er nicht mitbekommt, was der Professor über Elementare Zahlentheorie sagt, noch dass es Anfang Mai eine schriftliche Teamarbeit geben wird. Wie Moritz es auch dreht und wendet, seine Unbekannte heißt Lotta. Warum reagiert sie nicht auf seine Anrufe? Was hat er ihr nur getan?
Fragezeichen um Fragezeichen malt er auf seinen Collegeblock, während er im Geiste alle Szenen mit Lotta Review passieren lässt, an die er sich aus jüngster Vergangenheit erinnern kann: wie sie vor ihm zurückgeschreckt und ihm ausgewichen ist, sodass er sich zum Schluss kaum mehr getraut hat, sich ihr auf mehr als zwei Schritte zu nähern. Wie, in aller Welt, sollen sie zusammen eine Woche auf einer schwedischen Insel überleben?
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