Mit Gewalt zwingt Ludmilla ihre Gedanken in eine andere Bahn. Sie blickt hinauf zu den Sternen und spürt, wie ihr eine Träne aus dem Augenwinkel perlt und schließlich von ihrem Kinn auf den Sandweg tropft. Es ist lange her, aber es schmerzt so, als wäre es gerade erst gestern gewesen.
Langsam wandert Ludmilla weiter, den Uferweg entlang in Richtung von Lindholms Haus, das in der Ostbucht steht und auf den Lindholm – die unbewohnte langgestreckte Insel mit der ausgebrannten Ruine darauf – hinüberschaut. Auch Bengt, Agneta und die drei Lindholm-Kinder sind um diese Zeit bestimmt nicht mehr für Besuch zu haben. Aus einem der oberen Zimmer, das wohl einem der Kinder gehört, flackert bläuliches Licht wie von einem Fernseher in die Dunkelheit hinaus.
Hinter sich hört sie die leisen Schritte von Carina und Christer, als sie den Blick vom namenlosen Lindholm-Haus abwendet und weitergeht. Nach der nächsten Biegung des Sandweges liegt vor ihr der Südrand der Ostbucht, in die sich die Ferienhäuser Eins bis Drei kuscheln und über das nachtschwarze Wasser auf ihre kleinen rot gestrichenen Bootshäuschen auf dem Steg am Ende der Bucht hinaus schauen. Obwohl darin schon lange keine Segel- oder Ruderboote mehr liegen, hat es Bengt Lindholm bisher nicht übers Herz gebracht, diese Inbegriffe schwedischer Schärenidylle zu entfernen.
Langsam wandert Ludmilla weiter, vorbei am Wochenendhaus ‚ Norrgården ‘ – Nordgarten – von Olaf Enkvist, der als Herzchirurg am Karolinska Institut in Stockholm arbeitet, und vorbei am Haus ‚ Livstid ‘ – Lebenszeit – von Judith Isaacsson, die ihre Enkelin Kiki Sundström bei sich wohnen hat.
An der Nordbucht angekommen, die gleichzeitig die größte Bucht ist und den natürlichen Hafen der Insel bildet, bleibt Ludmilla erneut stehen und genießt für ein paar Augenblicke lang die friedliche Ruhe, die vom dunklen und beinah reglosen Wasser der Bucht ausgeht. Nur hier und da ist ein leises Glucksen zu vernehmen, wenn eine kaum sichtbare Welle gegen die an ihren Bojen liegenden Segelboote schwappt.
„So friedlich“, hört sie hinter sich Carina seufzen.
Offenbar sind sie und Christer ebenfalls stehen geblieben, um die Ruhe auf sich wirken zu lassen. Wenn morgen die nächsten Gäste kommen, wird es vorbei sein mit der Beschaulichkeit auf Björkö.
Ludmilla versucht sich gerade widerwillig aufzuraffen und weiterzugehen, als sie ein Geräusch hört, das sie zusammenzucken lässt. Es dauert ein paar Herzschläge lang, bis sie das Geräusch zuordnen kann. Es ist nichts, was sie nicht schon gehört hätte, ganz im Gegenteil. Aber es ist ungewöhnlich und höchst befremdlich, es in der Dunkelheit und um diese Uhrzeit zu hören.
„War das ein Boot?“ fragt Christer leise.
Er klingt ebenso überrascht und leicht erschrocken wie Ludmilla sich fühlt. Es ist gefährlich, bei Dunkelheit an der Nordseite von Björkö vorbeizufahren, sogar lebensgefährlich. Die starke Strömung des Sundes zieht alles in die schmale Passage zwischen Björkö und Stormalm. Wer sich nicht auskennt, wird auf den Lillemalm geschwemmt – oder gleich in den tückischen Strudel gezogen, der auf der Stormalmer Seite der kaum einhundertzwanzig Meter breiten Passage alles auf das felsige Südwestufer der großen Nachbarinsel zieht.
Und damit nicht genug: Abseits des Fahrwassers der Fähre, die von Stockholm kommend durch den Schärengarten fährt, gibt es vor der Ostseite von Björkö eine gefährliche Untiefe oberhalb des Lindholms, wo schon zahlreiche unbedarfte Sportbootführer auf Grund gelaufen sind. Außer Torge, Christer und den anderen ständigen Inselbewohnern würde sich niemand freiwillig bei Dunkelheit in diese Gefahr bringen.
„Das war wohl draußen im Fahrwasser“, antwortet Ludmilla leise. „Im Dunkeln trägt der Schall weiter. Ich glaube nicht, dass jemand so leichtsinnig wäre, sich in der Nacht hierher zu uns zu verirren, zumal ohne Licht. Oder hast du irgendwelche Positionslaternen gesehen?“
Christer schüttelt den Kopf, behält aber sein Stirnrunzeln bei. Ludmilla sieht ihm im fahlen Mondlicht deutlich an, dass er genau wie sie selbst das seltsame Platschen gehört hat. Da wird doch nicht etwa irgendeiner ohne Licht und ohne Genehmigung in ihren Gewässern fischen?
„Mir ist kalt“, hört sie Carina leise sagen. „Lasst uns zurückgehen. Ich koche uns eine Kanne Tee, irgendwas Warmes, Kräuteriges, zum Einschlafen.“
„Und ich sehe noch rasch nach Kim“, ergänzt Christer und beschleunigt ebenfalls seine Schritte, sodass Ludmilla überholt wird und als letzte am dunklen Haus ‚ Livslust ‘ ankommt.
Es ist unnatürlich ruhig im Haus, sodass Ludmilla unwillkürlich kalt über den Rücken fährt. Noch bevor Christer die Treppe hinauf ist und sein erschrockener Wutschrei durchs Haus hallt, ahnt sie, dass Kim nicht da ist.
*****
Der schmächtige Körper war als solcher kaum noch zu erkennen. Die Brandmale und blutigen Striemen zeichneten ein geradezu künstlerisches Muster auf die blasse Haut, die an vielen Stellen aus der zerfetzten Kleidung hervorblitzte. Wo die Haut weder verbrannt noch aufgeplatzt war, schillerten die Abdrücke von Schlägen und Tritten in allen Farben des Regenbogens.
Der Mann, der sich ‚Eiswolf‘ nannte, trat zurück und betrachtete sein Werk. Er hatte nicht geglaubt, dass der kleine Bursche so zäh war und so lange durchhalten würde. Mehrmals hatte er ihn mit einem Schwall kalten Wassers ins Gesicht aus der Ohnmacht wecken müssen. Er hatte all sein Können eingesetzt, alle zur Verfügung stehenden Werkzeuge genutzt – die Antwort auf seine Frage war immer dieselbe gewesen.
Ob er sich irrte und der Kleine wirklich nicht…? Nein, das stand außer Frage, er hatte sich noch nie geirrt.
„ Ich frage dich jetzt noch einmal“, knurrte der Mann leise und warf dem an den gefesselten Händen und ausgekugelten Armen hängenden Körper einen prüfenden Blick zu. „Du weißt, was ich mit dir mache, wenn du nicht antwortest.“
Die zugeschwollenen Lider in dem geprügelten Gesicht flackerten, während die aufgeplatzten Lippen weiterhin zitterten. Es kam kein Laut aus der Kehle des Jungen, nur ein schwaches Röcheln. Er war offenbar so schwach, dass er nicht einmal mehr den Kopf schütteln konnte.
Der Mann seufzte lautlos. Ein Nicken hätte ihm schon gereicht. Sie hatten das moderne Mobiltelefon überprüft. Die PIN zum Entsperren des Bildschirms hatte der Kleine ihnen schon in der ersten Stunde verraten. Er hatte geantwortet, als ‚Polarwolf‘ seine Frage gestellt hatte. Aber auf eine Frage hatte er sich bisher immer geweigert zu antworten. Und ausgerechnet diese Frage war es, die sie unbedingt beantwortet haben mussten – um jeden Preis.
Sie mussten sicher sein. Der ‚Steppenwolf‘ würde es nicht dulden, wenn sie unachtsam an die Sache herangingen. Dazu war zu viel schief gelaufen in letzter Zeit. In den USA waren zwei Schwestern im Geiste verhaftet worden; ebenso die einige Brüder in Deutschland, die unvorsichtig genug gewesen waren, sich von einem einfachen Streifenpolizisten verhaften zu lassen.
Der Mann seufzte und warf einen Blick auf den zweiten Mann, der am Tisch saß und über einem Grundrissplan brütete. Auf die Entfernung war zu erkennen, dass mehrere rote Kreuze Stellen markierten, die definitiv nicht infrage kamen. Zwei dünne grüne Linien hingegen, die sich scheinbar kompliziert über den Plan schlängelten, das war etwas anderes…
Mit fest zusammen gepressten Lippen wog der Mann, der sich ‚Eiswolf‘ nannte, den mittelschweren Hammer in der Hand und überlegte, mit welcher neuen Taktik er den Widerstand des Jungen brechen konnte und endlich die Antwort auf seine Frage zu bekommen. Er sammelte sich und fuhr mit einem „Ich frage dich…“ herum.
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