Als Professor Rickenstorff den leise summenden Beamer ausschaltet und sich verabschiedet, zuckt Moritz erschrocken zusammen, während sein genervter Sitznachbar bereits dabei ist, über seine ausgetreckten langen Beine zu steigen.
Moritz beeilt sich, seine Sachen zusammen zu sammeln und ebenfalls den Hörsaal zu verlassen. Draußen im Innenhof des Kollegiengebäudes findet er eine ruhige Ecke und wählt mit zitternden Fingern die Nummer von Lottas Wache in Hamburg. Es klingelt zweimal, bevor abgehoben wird.
„Polizeikommissariat 21 in Hamburg“, meldet sich eine männliche Stimme, die Moritz bekannt vorkommt. „Sie sprechen mit Oberkommissar Herms.“
„Moritz Guth hier“, antwortet Moritz gefasst, als er die Stimme am anderen Ende als die von Lottas Kollegen erkennt. „Ist Lotta Strandt da? Ich muss sie sprechen, es ist dringend.“
„Ach, hallo Herr Guth“, erwidert der Polizist eine Spur freundlicher, „tut mir leid, aber Lotta ist gerade auf Einsatz. Kann ich was ausrichten?“
„Nein“, murmelt Moritz leise, um dann mit leichter Besorgnis fortzufahren: „Sie ist im Einsatz? Ganz allein, ohne Sie?“
„Da wäre ich nur im Weg“, grinst Herms am anderen Ende der Leitung, „ich war leider etwas ungeschickt beim Skilaufen im März und trage derzeit ein Gipsbein spazieren. Lotta ist aktuell mit einem anderen Partner unterwegs, ein neuer Kollege aus Berlin: Oberkommissar Maximilian Bohse.“
„Ach so, ja, natürlich“, murmelt Moritz rasch, um sich seinen Schock nicht anmerken zu lassen. „Vielleicht richten Sie ihr einfach aus, dass sie mich zurückruft, wenn sie wieder da ist? Danke.“
„Geht klar“, antwortet Herms und verabschiedet sich.
Während Moritz das rote Auflegen-Symbol berührt, spürt er, wie sich der harte Boden unter ihm plötzlich in Treibsand verwandelt. Alles dreht sich um ihn, als es ihm eiskalt über den Rücken läuft. Ein neuer Kollege aus Berlin, warum hat Lotta denn nichts davon gesagt?
Mühsam schleppt sich Moritz hinüber zu einem großen grauen Stein, der unter einer schlanken Platane auf dem Rasen in dieser Ecke des Innenhofes liegt. Mit einem schweren Seufzer lässt er sich auf die kalte, harte Oberfläche sinken und versucht minutenlang vergeblich, seinen Puls zu beruhigen.
Mit einiger Überwindung startet er den Browser auf seinem Smartphone und tippt „maximilian bohse oberkommissar polizei berlin“ in die Suchmaske ein. Das kleine Lade-Icon dreht und dreht sich, bevor eine lange Trefferliste auf dem Display erscheint. Schon beim ersten Überfliegen wird Moritz klar, dass Lottas neuer Kollege ein Sport-Ass und ein Polizist mit etwas unkonventionellen Methoden sein muss.
„Verhaftung zweier Terror-Verdächtiger am Flughafen Berlin-Tegel“, liest Moritz, „Verbindung zu Jesim Bakr, Top Drei der international gesuchten Terroristen, nicht ausgeschlossen“, dazu „Auszeichnung für Berliner Oberkommissar“, und weiter unten: „Anschlag auf Berliner U-Bahn vereitelt – aufmerksamer Polizist stellt nach Verfolgungsjagd zu Fuß gesuchten Neo-Nazi.“
Der Artikel über die Auszeichnung bietet beim Draufklicken auch ein Foto, auf dem ein hochgewachsener, sportlich schlanker Mann Mitte Dreißig zu sehen ist, der neben einem trotz Zivilkleidung offiziell wirkenden Mann steht und dem neuen Bürgermeister von Berlin die Hand schüttelt.
Moritz zoomt heran und betrachtet das kantige Gesicht von Bohse, dessen stahlblaue Augen leuchten, während sein kurz geschnittenes dunkles Haar verwegen zum Seitenscheitel geteilt ist. Das strahlende Lächeln wirkt offen und keineswegs gestellt. Dennoch spürt Moritz, dass er diesen Mann aus tiefster Seele hasst.
Er scrollt noch ein bisschen weiter und findet ein Gruppenfoto, auf dem Lotta umringt von ihren Kollegen vom PK 21 abgebildet ist. Es muss ein neues Foto sein, denn Jacob Herms, der links von Lotta auf einem Stuhl sitzt, lässt unterhalb des rechten Knies den Rand eines Gehgipses erahnen.
Doch Moritz fühlt seinen Blick beinah magnetisch angezogen von dem großen, gut aussehenden Mann, der rechts der zierlichen Lotta in die Kamera strahlt. Aus der Perspektive des Fotos ist es nicht genau zu erkennen, aber es sieht so aus, als ob Maximilian Bohse seinen linken Arm um Lottas schmale Schultern gelegt hat. Moritz spürt ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust.
„‚Max Böse‘“, knurrt er leise, „du wirst mir Lotta nicht wegnehmen. Du nicht.“
Aber was kann er einem gefeierten Verhafter von Terroristen und Neo-Nazis entgegen setzen? Der Kerl ist ein Held, und auf sowas stehen Frauen doch. Das gilt bestimmt auch für Lotta. Und was hat er ihr schon zu bieten? Er ist doch nur ein unbedeutender Student im letzten Semester, der zwar seine Prüfungen stets mit Auszeichnung bestanden hat, aber noch ein Staatsexamen und das Referendariat absolvieren muss, bevor er als Lehrer für Mathematik und Sport an irgendeiner höheren Schule angestellt wird. Vielleicht reicht es irgendwann für eine Verbeamtung, aber im Vergleich zu… Wie soll er Lotta nur halten?
*****
Sein Körper war ein einziger Schmerz. Viermal schon hatten sie ihn mithilfe von eiskaltem Wasser wieder zu Bewusstsein gebracht, nachdem er in die gnädigen Arme einer Ohnmacht gesunken war. Nun aber wusste Ahmed, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Seine Kehle war rau wie grobes Sandpapier und so trocken wie das Land, aus dem Mama und Papa gekommen waren.
Er hatte es nicht mehr ausgehalten und geschrien und geschrien, für eine Weile jedenfalls; unter jedem Schlag und bei jedem neuem Schmerz, bis er ganz heiser war. Er hatte geweint und um Gnade gebettelt; er hatte es nur noch schlimmer gemacht. Er hatte gebetet, zu Allah, doch es war keine Hilfe gekommen.
Sie hatten ihm einen Gürtel um den Hals gelegt und so fest zugezogen, dass er befürchtete ersticken zu müssen. Dann wieder hatten sie ihn geschlagen und mit Gegenständen traktiert, die er durch seine geschwollenen Augen nicht einmal auseinander halten konnte.
Die Frage, die man ihm stellte, war immer dieselbe. Er wusste die Antwort nicht und genauso wenig, was sie von ihm hören wollten. Er konnte nicht antworten, selbst wenn er gewollt hätte. Denn es war vollkommen egal, was er bisher auch immer geantwortet hatte: Man hatte ihm nicht geglaubt und einfach weiter gefragt, als ob er überhaupt nichts gesagt hatte. Er spürte, dass es bald mit ihm zu Ende gehen würde; denn in den Augen der Männer lag kein Erbarmen.
*****
Das Abendessen ist eine ruhige Angelegenheit. Kim ist mit Stubenarrest und einem Teller mit zwei Scheiben Butterbrot zu Bett geschickt worden. Ludmilla Zettergren bezweifelt jedoch, dass der Junge schon schläft. Wahrscheinlich hat er es sich wie schon so oft mit Christers Taschenlampe unter der Bettdecke gemütlich gemacht, um einen Abenteuerroman von Mark Twain oder Robert Louis Stevenson zu lesen.
Während Ludmilla sich schweigend eine dritte Scheibe helles Dünnbrot mit gesalzener Butter bestreicht, überlegt sie, ob sie das belanglose Gespräch ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns unterbrechen soll, um über Kim zu sprechen. Sie spürt, dass den Jungen etwas bedrückt, mit dem er allein nicht fertig wird. Er braucht Hilfe, am besten die Hilfe seiner Eltern.
Andererseits ist da Christers sarkastische Art, die in solchen Fällen selten zielführend ist und genau genommen nur Carinas überfürsorgliches Gehabe ins Unerträgliche verstärkt. Schon deshalb, aber auch um Carina nicht unnötig zu beunruhigen, hat Ludmilla ihnen nichts davon erzählt, was Torge gesehen hat.
„Die Vorbereitungen“, sagt Christer, während er genüsslich einen Schluck aus seiner Flasche Leichtbier nimmt, „sind abgeschlossen. Fehlt noch das Zelt von Petter morgen, dann ist alles fertig.“
„Du hättest Maiken sehen sollen“, grinst Carina, „als ich ihr die Lebensmittel gebracht habe. Sie hat gestrahlt wie ein Christbaum. Jetzt kocht und bäckt sie bestimmt die gesamte Nacht durch.“
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