Von Kim ist weit und breit nichts zu sehen. Dafür bemerkt sie aber ein Floß aus Birkenstämmen, das jenseits des hochgezogenen Steges an der Anlegestelle des Riddarsteens auf dem beinah spiegelglatten Wasser in der geschützten Bucht liegt. Direkt daneben ist Sven-Oves Ruderboot vertäut, in dem sie einiges Angelzubehör erspähen kann.
Und als wäre das noch nicht genug, kommt der Inselbesitzer höchst persönlich den felsigen Weg von seinem Haus hinter den weißen Birken herunter, in der linken Hand eine kleine Axt. Ludmilla sieht, dass er zielstrebig auf das Floß zu marschiert, dessen letztes Stündlein offenbar geschlagen hat.
Gerade will sie sich abwenden, um dem trotz seiner über neunzig Jahre immer noch rüstigen und kräftigen Mann nicht bei seinem Zerstörungswerk zusehen zu müssen, da fällt ihr Blick auf die Wasseroberfläche am Heck des Ruderboots.
Vor Schreck bleibt sie wie angewurzelt am Ufer stehen, als sie den nassen schwarzen Haarschopf erkennt, der sich dort Millimeter für Millimeter auf das Floß zu schiebt, immer im Sichtschatten des Ruderbootes. Nicht auszudenken, wenn der Mann den Jungen erwischt.
Im nächsten Augenblick sieht sich Ludmilla schon zu dem großen flachen Stein hinüberlaufen, auf dem der Steg im herunter geklappten Zustand aufliegt. Sie rudert mit den Armen und zieht die Aufmerksamkeit des Mannes wie geplant auf sich, als sie laut ruft: „Lauf nicht weg, Sven-Ove. Hör zu.“
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Es ist genau wie in dem Buch. Er weiß etwas, aber er darf es nicht sagen. Denn wenn er es sagt, dann kommt der Indianer-Joe und wirft mit einem Messer nach ihm. Er ist Tom Sawyer. Er muss warten, bis die Zeit gekommen ist.
Vorsichtig zieht er das Beutestück hervor und hält es ins Sonnenlicht. Es ist klein und unnatürlich geformt, aber es liegt schwer in seiner Hand. Er weiß selbst nicht, warum er es eingesteckt hat. Es ist einfach passiert, als er diesen Brief gefunden und zu lesen versucht hat. Genau genommen hat er gestern weitaus größere Probleme gehabt, als irgend so ein Ding wie das hier in seine Hand zu nehmen. Denn dass es nicht das ist, wonach er sucht, das weiß er.
Schlagartig wird ihm klar, dass er nochmal auf die Insel muss. Nur dort kann er sein, der Schatz des Indianer-Joe. ‚Vergraben‘, hat der böse Mann gesagt. ‚Sicher und trocken. Keine Sorge.‘ Mit wem er gesprochen hat, ist durch das angelehnte Fenster nicht zu verstehen gewesen. Aber er hat ja sowieso nur kurz lauschen und dann zum Schuppen rennen wollen, genau wie er es dann auch gemacht hat, um sein Eigentum zurückzuholen.
Glücklich mit dem Pfeil in der Hand, hat er sich eigentlich nur so aus Spaß in dem Schuppen umgesehen und dabei nicht nur das fleckige Messer, sondern auch die eiserne Kassette entdeckt, ganz oben auf dem Regal neben dem Fenster, in das er seinen Pfeil geschossen hat. Im Glauben, das Messer sei voll von Doc Robinsons Blut, womit dann auch die Geschichte vom Schatz wahr wäre, hat er sofort die kleine Trittleiter aufgeklappt und die Stahlkassette vom Regal herunter geholt.
‚Mein Schatz‘, hat der Mann gesagt, ‚steht euch zur Verfügung. Ich werde alle nötigen Vorbereitungen treffen, Nummer Zwei.‘
Vielleicht ist er sich deshalb so sicher gewesen etwas Kostbares zu finden. So ist es geradezu eine Enttäuschung gewesen, in der Kassette nicht den Schatz, sondern nur einen kurzen Brief und eine Unmenge alter Zeitungsausschnitte zu finden. Alle haben vom Selbstmord eines Mannes im Jahr 1962 gehandelt, der dem Namen nach mit Doktor Olaf verwandt ist. Der Brief ist jedoch etwas ganz anderes gewesen. ‚ Bernstein ‘, hat darin jemand in einer fremden Sprache geschrieben, ‚ Odin-206.3 ‘, ‚ Seeschwalbe ‘ und ‚ Austernfischer ‘. Das Ganze ist so seltsam gewesen, genau wie dieses kleine runde Ding mit dem Kreuzrad darauf, das nun rätselhaft in seiner Handfläche glänzt.
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Der Wind frischte auf, als sie die offene See erreichten. Der Bug des schnellen Seglers hob und senkte sich im Takt der Wellen, während schäumende weiße Gischt aufs Deck klatschte und die beiden hölzernen Masten leise ächzten und stöhnten wie unselige Geister in einer Gewitternacht. Es war mitten in der Nacht zum ersten Mai 1943, vielleicht schon gegen Morgen.
Jasper Norén umklammerte das Steuerruder und versuchte, das schwankende Schiff auf Kurs zu halten. Sie waren spät losgekommen und hatten immer noch eine weite Strecke vor sich. Torge hatte errechnet, dass sie bei gutem Wind noch gut zwei Stunden brauchen würden, bis sie den verabredeten Treffpunkt nordnordwestlich von Rügen erreichten. Bei dem immer stärker werdenden Wind und den zunehmend höheren Wogen der Ostsee würden sie vielleicht schneller vorankommen, aber Gefahr laufen, vom Kurs abzukommen.
„ Mehr nach Süden“, hörte er die Stimme von Sven-Ove neben sich. „Wir sind zu weit auf Ostkurs. Komm, ich helfe dir.“
Jasper nahm erleichtert wahr, wie sein Freund mit in das Steuerruder griff, das einem mit hölzernen Spitzen bestückten Wagenrad nicht unähnlich auf dem Achterdeck des Seglers dem Wetter trotzte, aber einen unbändigen Hang zum Umschlagen und sie bereits mehrfach von der geplanten Kurslinie abgebracht hatte. Torge hatte es nach der letzten Fahrt eigenhändig aus dem alten Fuhrwerk von Ole Pettersson gefertigt und angebracht.
Warum sie bei ihrer letzten Fahrt ausgerechnet kurz vor dem Treffpunkt auf die deutsche Patrouille gestoßen waren, würde wohl immer ein Rätsel bleiben. Sie hatten geflucht und so rasch wie möglich beigedreht, um in den internationalen Gewässern zu bleiben und den Deutschen keinen Grund zu geben, sie nicht für Ausflugssegler unter Flagge eines neutralen Landes zu halten.
Es war gut gegangen, so gerade eben. Der Warnschuss war dicht an ihnen vorbei gegangen und hatte glücklicherweise nur einen Teil des alten Steuerrades erwischt. Sicherlich hatte es geholfen, dass Torge, Rasmus und Sven-Ove ein paar Worte Deutsch sprachen und so dem Kommandanten des schwer bewaffneten grauen Patrouillenbootes verständlich machen konnten, dass sich ihr Kompass leider verklemmt und die falsche Richtung angezeigt habe. Eigentlich seien sie auf dem Weg von Lolland zurück zum Hafen von Ystad unterwegs und offenbar viel zu weit nach Süden gefahren.
Der Deutsche hatte es geglaubt und sie unbehelligt weitersegeln lassen, auch wenn nicht nur Jasper jeden Moment damit gerechnet hatte, von den schnell feuernden Bordkanonen unter Beschuss genommen und versenkt zu werden.
Dasselbe konnte ihnen heute auch passieren, denn die Deutschen würden auch bei diesem Wetter ordnungsgemäß ihren Dienst versehen. Sie konnten also nur hoffen, dass ihr Kontaktmann sie wie verabredet in der sogenannten Grauzone jenseits der deutschen Hoheitsgewässer erwarten würde.
„ Verdammt nochmal!“ hörte Jasper plötzlich eine Stimme fluchend. „Da sind schon wieder welche!“
Mit dem Feldstecher an den Augen stand Rasmus nur wenige Meter entfernt am Fuße des Großmastes und starrte angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Der Himmel war von grauen Wolken verhängt, die das silberne Mondlicht nur ab und zu auf die Wogen der Ostsee blitzen ließen. Aber auch in der Dunkelheit konnte Rasmus mit seinen Adleraugen und dem Feldstecher voraus offenbar etwas erkennen, das Torge selbst mit dem Nachtsichtgerät und vom Ausguck am Großmast aus nicht ausmachen konnte.
„ Beidrehen“, murmelte Sven-Ove neben Jasper, doch es klang eher wie eine Frage. „Vielleicht lassen Sie uns in Ruhe.“
„ Hisst die Flagge“, drang Torges Stimme zu ihnen herunter. „Geben wir uns zu erkennen. Hier können Sie uns nichts, wenn sie sich an die Regeln halten.“
Jasper verbiss sich eine scharfe Bemerkung und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick bei Sven-Ove, dass dieser für ein paar Augenblicke allein das Ruder würde halten können, während er die königlichen Farben – gelbes Kreuz auf türkisblau – entrollte und ein paar Meter über dem Heck in die Höhe zog.
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