Ja, was hat sie sich gedacht? Es ist alles so schnell gegangen, dass für Gedanken an die Vorschriften kaum Zeit gewesen ist. Auch Kollege Gerrit Raake hat nicht widersprochen und ihr sogar beim Einbrechen geholfen, wofür er mittlerweile ebenfalls einen Verweis bekommen haben wird. Aber zählt es denn nicht, dass sie durch diese dreiste Aktion einen Jahrzehnte lang gesuchten Massenmörder verhaften und zweifelsfrei überführen konnten?
Die freundliche Staatsanwältin vom Landgericht Aurich hat es zwar nicht offen zugeben können, aber sich indirekt für die umfassenden Beweise bedankt, die den Mörder bis an sein Lebensende hinter Gitter bringen werden. Zum Glück ist das eigenmächtige Handeln einer Hamburger Kommissarin und ihres Kollegen von der Polizei Borkum nicht zum Nachteil der Anklage geworden, auch wenn die Pflichtverteidigerin die Umstände der Verhaftung und die Dienstauffassung der betreffenden Polizisten infrage gestellt hat.
Die Kollegen in Hamburg haben sie einerseits zum erfolgreichen Abschluss des Falles beglückwünscht, zum anderen darauf hingewiesen, sich in Zukunft strikt an die Vorschriften zu halten. Es sind schon viele vermeintlich klare Prozesse durch kleinste Verfahrensfehler gescheitert.
Ähnlich verhält es sich auch, Lotta schluckt schwer, mit ihrer Bewerbung, die im vergangenen Dezember an die Kriminalpolizei Hamburg gegangen ist. Die freie Stelle beim Morddezernat wäre genau die Herausforderung, die sie sucht. Aber mit der Verwarnung und dem Vermerk in ihrer Akte ist es ein Wunder, dass sie ihr einen so freundlichen Absagebrief geschickt haben. ‚ Zum derzeitigen Zeitpunkt können wir Ihnen diese Stelle leider nicht anbieten .‘ Aber bedeutet das nicht, dass sie es zu einem späteren Zeitpunkt nochmal versuchen kann?
Kollege Max hat gesagt, man solle sich durch solche Rückschläge ja nicht verunsichern lassen. Aber auch er hat zu spüren bekommen, was es heißt, die Vorschriften zu missachten. Natürlich sind alle heilfroh, dass er diese gefährlichen Leute in Berlin verhaften konnte, bevor der U-Bahn, dem Bundestag oder dem Flughafen etwas passiert ist. Seine Verhör-Methoden haben zwar zum Erfolg geführt, aber auch das Maß überschritten, das in Deutschland erlaubt ist.
Außerdem ist Max dem deutschen Geheimdienst, dem Bundesnachrichtendienst, auf die Füße getreten, indem er eigenmächtig das Verhör geführt hat, ohne auf den BND oder die Herren vom Verfassungsschutz zu warten.
Im Vergleich dazu ist Hausfriedensbruch ohne Körperverletzung harmlos, aber eben auch ein Verfahrensfehler, der die Staatsanwaltschaft den Prozess hätte kosten können, so wie es jetzt in der Hauptstadt mit den Beinah-Attentätern und wohl auch mit dem Neo-Nazi der Fall sein wird, wenn die Verteidigung gut genug argumentiert.
Dennoch, ein Fehler ist ein Fehler. Genau wie ihr eigenmächtiges Handeln am gestrigen Tag. Statt Belobigung hat sie erneut ein Gespräch mit Krüger gehabt. Für Alleingänge habe er kein Verständnis, hat der Chef gesagt. Dabei hätte es auch ganz anders ausgehen können, gestern in der Schanze. Was wäre passiert, wenn sie den Skinhead nicht mit einem seitlich gedreht Yop-Chagi am Betreten eines linken Szene-Treffs gehindert hätte? Aber das zählt natürlich nicht; zählen tut nur, dass sie ohne Provokation angegriffen hat – entgegen der Taekwondo-Philosophie und der Polizei-Gepflogenheiten.
‚Ich hatte gehofft‘, hat Krüger mit spürbarer Enttäuschung hinzugefügt, ‚dass Sie aus der Sache im Dezember gelernt haben. Aber offenbar nehmen Sie sich lieber ein Beispiel an Kollege Bohse, ein schlechtes, wohlgemerkt.‘
Dann hat er sie mit der Bemerkung vorzeitig aus der Schicht entlassen, dass sie die Woche Urlaub dazu nutzen solle, in aller Ruhe über ihre berufliche Laufbahn nachzudenken. In zwei Wochen wolle er dann eine Entscheidung von ihr – Dienst nach Vorschrift ohne Aussicht auf baldige Beförderung oder Versetzung in den Verwaltungsdienst. Beides sind Alternativen, die Lotta nicht behagen. In letzter Konsequenz könne sie ansonsten auch noch ein Studium beginnen, hat Krüger mit bemüht freundlichem Tonfall zum Abschied gesagt, sie sei ja noch jung, erst im Juli dreiundzwanzig Jahre alt.
Aber Lotta kann sich einfach nicht vorstellen, wie es wäre, nicht Polizistin zu sein. Daher wird sie kämpfen müssen, egal wie schwer es ihr fällt. Das gilt beruflich wie privat, auch wenn sie noch keine Ahnung hat, wie sie das schaffen soll. Nicht zum ersten Mal hat sie das Gefühl, in einer Sackgasse zu stehen, umgeben von unüberwindbaren Mauern.
„Und was wirst du jetzt machen, Lottchen?“ wird sie von einer hellen Stimme aus ihren düsteren Gedanken zurück in die Gegenwart gerissen. „Ich meine, wegen Moritz?“
Überrascht blickt Lotta auf und direkt in die fragenden grauen Augen von Susanna Eberhardt, ihrer besten Freundin, die ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tischchens sitzt, mit der Fußspitze des überschlagenen Beines unruhig wippt und sich den Milchschaum ihres Latte Macchiatos von den vollen Lippen leckt. Ein bisschen Schaum hat sich auch in die Spitzen ihrer kinnlangen rotbraunen Locken verirrt, die wie immer künstlerisch eigenwillig nach allen Seiten abstehen, sodass Sanna sie etwas mühsam eine nach der anderen mit einer Papierserviette abwischen muss.
Nach dem Gespräch mit dem Chef hat Lotta sofort mit ihrer besten Freundin sprechen müssen, die eine gemeinsame Mittagspause vorgeschlagen hat im Café auf dem Alsteranleger gleich um die Ecke von der Werbeagentur, in der Sanna als Grafikdesignerin arbeitet.
Über Salat und Coke zero haben sie Lottas Neuigkeiten und Aussichten auf eine berufliche Zukunft bei der Hamburger Polizei – Streife oder Kripo – diskutiert, sind aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen. Lotta fühlt, wie sich die Sackgasse hinter ihr schließt und ihr keinen Ausweg mehr lässt – genau wie bei dem Problem, mit dem sie sich privat herumschlägt und bei dem Sanna ihr nur allzu gern helfen würde, es aber außer mit freundschaftlichem Beistand nicht kann.
„Also?“ wiederholt Sanna. „Siehst du noch eine Chance für euch?“
„Ich weiß es nicht“, antwortet Lotta leise und leert ihr Glas, um sich sammeln zu können. „Ich liebe ihn, ja, wirklich. Aber wie kann ich mit ihm zusammen sein, wenn er mit dem Mann verwandt ist, der meine Familie ermordet hat?“
„Ich weiß, Süße“, murmelt Sanna zerknirscht. „Aber eigentlich kann er doch…“
„… nichts dafür“, vollendet Lotta. „Schon klar, es ist ja auch völlig irrational, aber ich muss immer daran denken, was der Mörder mit meiner Mutter und wegen ihr gemacht hat. Ich habe sogar Alpträume deswegen. Es ist schrecklich. Letztes Wochenende, als Moritz da war, da konnte ich ihn nicht mal küssen. Ich habe Herzrasen bekommen, die schlimme Sorte, sobald er mir näher kam. Es war furchtbar. Er tat mir so leid. Aber ich konnte nicht anders.“
Sannas graue Augen sind neblige Teiche, als sie an Lotta vorbei in den blauen Himmel des frühen Nachmittags starrt. Ein paar Möwen fliegen vorbei, weiße Flecken vor dem Himmelsblau, während am Ende des Steges vier Stockenten ihre bettelnden Kreise ziehen und zwei majestätische Alsterschwäne nach den baumelnden Beinen der Café-Besucher ganz vorne an der Kante schnappen.
„Warst du nochmal bei der Psychologin?“ fragt Sanna schließlich leise.
Lotta nickt und stellt das leere Glas zurück auf den Tisch, während sie an das letzte Gespräch mit Frau Doktor Rosenberg zurückdenkt. Die Reaktionen seien ganz normal, hat die hagere Frau mit freundlich interessiertem Lächeln gesagt. ‚Sie trauern, und das ist auch gut so. Sie müssen verarbeiten, was Sie über Ihre Familie und vor allem das Schicksal Ihrer Mutter herausgefunden haben. Aber versuchen Sie, nicht die Menschen von sich wegzustoßen, die Ihnen helfen und Ihnen Kraft geben wollen. Keine Sorge, das wird schon werden.‘
Читать дальше