„Ja“, nickt Carina, „aber das hilft mir jetzt auch nicht. Kiki, kannst du mir suchen helfen? Ich habe wirklich das Gefühl, dass dem Jungen was passiert ist.“
„Na klar“, nickt Kiki Sundström und nimmt die volle Einkaufstüte von Ludmilla entgegen, „lass mich nur rasch meine Sachen nach Hause bringen und Judith Bescheid sagen.“
Ludmilla kommt hinter dem Ladentisch hervor und hält Kiki die Tür auf. Carina ist schon draußen am Fuße der flachen Holzstiege, die vom felsigen Untergrund am Rande des Sandwegs zur Ladentür hinaufführt. Sie nickt zum Abschied und eilt neben Kiki den Pfad zwischen den Birken entlang, vorbei an kleinen halbschattigen Wiesen voller Gänseblümchen und hinüber zum hübschen roten Haus von Kikis Großmutter Judith Isaacsson.
Während sie den beiden Frauen hinterher sieht und die frische klare Luft dieses Frühlingstages einatmet, kann Ludmilla nicht umhin, sich Gedanken und Sorgen zu machen. Es sieht Kim wirklich nicht ähnlich, die Schule zu schwänzen. Ob er vielleicht etwas ausgefressen hat, um sein Streber-Image zu unterwandern?
„Benka“, murmelt Ludmilla und zieht die Stirn in Falten. „Wenn jemand etwas weiß, dann der kleine Irrwisch Benka Lindholm. Immerhin geht er mit Kim in dieselbe Klasse.“
Kurz überlegt sie, ob sie hinter Carina her rufen soll. Aber dann sieht sie ihren Schwiegersohn Christer zusammen mit Bengt Lindholm, dem Vater der blonden Rasselbande, aus der kleinen nordnordöstlich gelegenen Felsenbucht heraufkommen, die neben dem Fähranleger auch als natürlicher Hafen für die kleinen offenen Segelboote von Björkö dient.
Jetzt, da der Beginn der Saison so kurz bevor steht, haben die beiden Männer die vier privaten und sechs zu mietenden Boote inspiziert und, den schweren Arbeitshandschuhen nach zu urteilen, auch bereits zu Wasser gelassen.
„Ja, hej , Milla!“ ruft Christer und streicht sich sein halblanges honigblondes Haar aus der verschwitzten Stirn, während Vater Lindholm wie seine beiden Söhne eine aschblonde Stoppelfrisur trägt. „Hast du eine Limonade für uns?“
„Selbstverständlich“, antwortet Ludmilla und greift hinter sich in eine blaue Plastikkiste neben der Tür, aus der sie zwei Glasflaschen zieht. „Alle Boote im Wasser, ja?“
Bengt Lindholm nickt, sinkt auf die Holzstufen vor der Tür und nimmt dankbar eine Flasche entgegen, die er mit einer raschen Bewegung seines rechten Daumens entkorkt. Christer tut es ihm gleich, prostet dann lächelnd Ludmilla zu und nimmt einen tiefen Zug von der hausgemachten Zitronenlimonade.
„‚Gustafssons Beste‘“, grinst Bengt und zwinkert Ludmilla zu, die sich mit einem leisen Seufzen der Schmeicheleien von Minka erbarmt und die Katze auf den Arm nimmt. „Genau richtig für hart arbeitende Männer. Das war wirklich eine Plackerei, aber jetzt schaukelt die ganze Flotte friedlich in der Bucht.“
„Die Feriengäste“, nickt Christer, „können also jederzeit kommen. Es ist alles vorbereitet. Ich muss nur noch übermorgen neues Bier besorgen, wenn ich in der Stadt bin. Das könnte sonst knapp werden.“
„Freitag nachmittag kommen die ersten Gäste, alle wegen der Feier, die sich auf Haus Eins bis Drei aufteilen werden“, erklärt Bengt an Ludmilla gewandt. „Am Samstag kommt ein Schriftsteller – dem Namen nach aus Fernost – an, der für eine gute Woche Haus Sechs gemietet hat. Haus Fünf ist ab Samstag an vier junge Leute aus Uppsala vermietet, Studenten. Einen davon kennst du, Milla. Vielleicht erinnerst du dich noch an ‚ Rövare-Nik ‘, Niklas Johansson?“
„Oh“, macht Ludmilla erstaunt und wenig begeistert, „der kleine Räuber-Nik, dieser Plagegeist, ist das nicht der Enkelsohn von…?“
„Sven-Ove Hallgren, unserem Einsiedler, allerdings. Die Mutter des Jungen war Sven-Oves Tochter Edita, sein Vater Ulf ist bis vor wenigen Jahren Schuldirektor an einer Stockholmer Gesamtschule gewesen.“
„Ist Niklas nicht damals zur Schule gegangen mit…“, Ludmillas Miene verdüstert sich, „mit – wie hat er sich genannt? – ‚ Stjärnkrigare Anders ‘, dem Sohn von…“
„… Herrn ‚Schweden für Schweden‘“, nickt Bengt grimmig, „Jonas Blom, richtig. Sein Sohn Anders war früher oft hier zu Besuch.“
„Jonas Blom“, murmelt Ludmilla ohne Sympathie, „dass so jemand für uns im Reichstag sitzen darf… Eine Schande für unser Land ist er, wenn ihr mich fragt, und ebenso ewig gestrig wie…“
„… leider immer noch eine ganze Menge Leute hier“, seufzt Christer. „Ob du es glaubst oder nicht, sogar Nisse sagt manchmal Sachen, die …, naja, nicht so ganz in die heutige Zeit passen.“
„Ja, leider“, stimmt Bengt zu. „Aber das ist eben die Angst der Leute, die sich solche wie Blom zunutze machen. Und dann werden sie gewählt und dürfen, weil es bei uns ja Meinungsfreiheit gibt, ihre Reden schwingen. Das Schlimme ist, dass viele Leute zunehmend hinter diesen Aussagen stehen. Nirgendwo gibt es so viele rechte Gruppierungen wie bei uns, angefangen bei den ‚Ariern‘ und den durchschnittlichen schwedischen Neo-Nazis bis hin zu diesen Spinnern, die sich ‚Odins Wölfe‘ nennen und – vorgeblich ‚zum Schutze des schwedischen Volkes‘ – Jagd auf Immigranten machen, Asylantenheime anzünden und was weiß ich nicht noch alles anrichten.“
„Ja“, nickt Ludmilla düster, „die Zeitungen sind voll davon in letzter Zeit. Aber vielleicht hält unser neuer Regierungschef sein Wort und räumt da auf?“
Bengt zuckt mit den Schultern und nimmt einen Schluck Limonade, bevor er achselzuckend fortfährt: „Natürlich sind das nur die Extremisten, aber leider wird auch Stig Ekström mit seiner gemäßigten Politik kaum was dagegen tun können, dass die breite Masse zunehmend nach rechts rückt. Schau dir doch nur die letzten Wahlergebnisse an, Milla. Wer hat denn da am meisten Aufschwung bekommen und ist jetzt zweitstärkste Fraktion?“
„Die National-Konservativen“, antwortet Christer mäßig enthusiastisch, wozu Ludmilla stumm und mit grimmiger Miene nickt. „Deshalb haben wir den Blom ja jetzt im Kabinett, eine Schande ist das.“
„Nun“, fährt Bengt fort, „wie auch immer, aus dem Jungen, der früher immer mit Steinen nach deiner Katze warf, Milla, ist ein junger Mann geworden, der in Lund studiert – Rechtswissenschaft, soweit ich weiß. Er kommt mit drei von seinen Freunden her.“
„Ist der junge Blom dabei?“ fragt Ludmilla mit einer Sorgenfalte auf der Stirn.
„Ich hoffe nicht“, antwortet Bengt achselzuckend, „aber selbst wenn, so wenig mir die Ansichten seines Vaters gefallen, so kann ich ihn schlecht von unserer Insel fernhalten. Ich weiß nur, dass sie zu viert kommen. Einer soll übrigens der Sohn von Linus Bergström sein.“
„Dem Star-Architekten?“ fragt Ludmilla überrascht, bevor sie seufzend hinzufügt: „Ach herrjeh, das ist doch bestimmt so ein verwöhntes Bengelchen, das am liebsten in irgendeinem überteuerten Ferienclub den Mädchen nachstellt, rund um die Uhr Partys feiert und tagein, tagaus Champagner trinkt. Was will der hier auf unserer ruhigen Insel?“
„Sein Vater Linus ist nicht nur Architekt“, antwortet Christer, „sondern auch der Zwillingsbruder von Rechtsanwalt Julius Bergström.“
Als Ludmilla nicht gleich begreift, erklärt Christer, dass Julius zu den geladenen Gästen für die offizielle Feier gehöre, bei der dem geschätzten Inselbewohner Torge Lundqvist anlässlich seines fünfundneunzigsten Geburtstages ein ehrenvoller nationaler Verdienstorden verliehen werden soll. Zu der Abordnung der Regierung werde neben dem ehemaligen Reichstagspräsidenten Dolf Svensson von der Sozial-Liberalen Partei auch der neue Premierminister Stig Ekström von der christlich-konservativen Partei gehören.
„Soweit ich weiß“, fährt Bengt fort, „wird Ekström seinen Sohn Pär mitbringen, der gerade auf Heimatbesuch ist und mit seiner Segelyacht herkommen wird. Wir haben schon einen Liegeplatz für sie vorbereitet.“
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