Der Bus fuhr über die Brücke, die zugleich auch als Bahnüberführung diente, in Richtung Singapur. Ich hatte gedacht, mit dem Bus, der ja seinen Fahrplan einhalten muss, komme ich unbehinderter da rüber. Aber nein! Singapur ist ein eigenes Land und wenn auch klein, so doch groß mit seinen Schikanen. Ich muss aussteigen. Der Bus fährt ohne mich weiter. „You Hippie?“ fragt der Zöllner. Er ist weiß. Alle Schlüsselposten sind in Singapur mit Weißen besetzt. „No Hippie!“ Ich verleugne meine Religionsgemeinschaft, wie ein Jude im dritten Reich. Ich komme mir etwas vor wie ein Verräter. Warum kann man auf dieser Welt nicht so sein, wie man ist? Warum muss man sich immer den Vorstellungen verschrobener Moralhüter unterwerfen? „You have drugs, you take drugs?“ Die Stempel in meinem Pass wirken nicht gerade als Empfehlung. Ich lege ihm mein Schiffsticket hin. Das ist Voraussetzung für das Eintagsvisum. Trotzdem alles auspacken. Lächerlich! denke ich. „Why do you smile?“ will er wissen. „You waste your time!“ bemerke ich. „You bloody Hippies waste your time! Why don’t you work like everybody?“ Bumm, bumm, bumm! knallen die Stempel auf meinen Pass. Ich bin erleichtert. „Welcome to Singapore!“ wünscht man mir sogar, als man mir Pass und Gesundheitskarte zurückgibt. Ich bin in Singapur, welches als das bisher größte Hindernis der Reise erschienen war!
Zuerst lief ich zum Hafen. Mein Schiff war noch nicht da, es sollte erst am Nachmittag einlaufen. Ich hatte von hier aus nur einen beschränkten Blick auf den Hafen, aber der reichte aus, um festzustellen, dass er enorm sein muss. Und direkt vom Meer aus erreichbar, ohne Revier, also ohne Flusszufahrt. Ich ließ meinen Rucksack beim Pförtner einer der Eingangsschranken zurück, und machte mich auf den Weg in die Stadt. Singapur wurde gerne als Beispiel für das friedliche Zusammenleben verschiedener Rassen und Kulturen dargestellt. Aber auch hier hatten Aufruhre stattgefunden, ich glaube 1966. Es bleibt anscheinend auf lange Sicht nicht aus, dass jemand sich den Anderen überlegen fühlt. Jede Volks-gruppe lebte in ihrem eigenen Viertel. Das Wort Ghetto ist übertrieben, aber Rassenschranken bestanden offen-sichtlich! Nur das Geld machte die Menschen gleicher und bewirkte das Abbröckeln alter Sitten. Jedes Viertel hatte seine eigene Bauweise, die am besten an den Tempeln zu erkennen war. Chinesen, Inder, Malaien teilten sich die Insel, die Arbeit und den Handel. Und natürlich war und ist der weiße Mann auch sehr an allem beteiligt, vor allem die Engländer. Singapur war Teil des ‚British Commonwealth of Nations‘, was fast alle ehemaligen englischen Kolonien einschloss und eng mit dem Mutterland verband. Wichtig, vor allem, die Militärstützpunkte überall in der Welt, wie Gibraltar, Aden, Hongkong und hier Singapur. Eine legale Mafia. Was mir gleich ins Auge stach, waren die Fahrrad-rikschas! Hier waren das Fahrräder mit Seitenwagen dran, so wie mein altes Mammut, nur schwindsüchtiger. Wäre ich damals mit so etwas aufgebrochen, hätte ich keine Kolbenfresser riskiert, sondern schlimmstenfalls Wadenkrämpfe und einen Pavianarsch!
So gegen 5 Uhr komme ich zum Hafen zurück. Weiße Aufbauten und Masten überragen den Schuppen vor mir, dazu ein schwarzer Schornstein mit einem weißen A darin. Als ich um den Schuppen herumgehe, liegt sie vor mir: Die ‚Australasia‘, grau gestrichener Rumpf, 6 Luken, 4 Decks, ein ‚Kombischiff‘. Sieht nach 50er Baujahr aus, aber gut in Schuss! Den Aufbauten nach zu schließen kann sie 200 bis 250 Passagiere befördern. Als ich mich nähere, rufen ein paar Kinder und eine Frau vom Hauptdeck „Hi, Wolfi!“ und winken. Es sind die Cartwrights, die irländischen Auswanderer. Daddy war noch auf der Pier beim Verladen des Autos. Dieses wurde an einen Kran angehängt und dann an Bord gehievt. Großes Hallo. Über eine Gangway komme ich an Deck. „Welcome on Bord!“ empfängt man mich, Ticketkontrolle, dann nimmt ein Steward meinen Rucksack und führt mich durch lange Gänge und Treppen hinunter bis vor eine Tür, die letzte an Steuerbordseite. Das gefällt mir! Da sich ja Dutzende von gleichen Türen aneinanderreihen, ist so die Kabine jederzeit leicht zu finden! Der Steward klopft und lässt mich eintreten. Und wer ist da, gerade dabei, seinen Koffer auszupacken? John, der Amerikaner, mit dem ich schon auf der Rajula die Kabine geteilt hatte! „Hi Wolfi!“ begrüßt er mich, freudig überrascht. In Kuala Lupur hatte es mit seinem Job nicht geklappt, und so hatte er beschlossen, nach Australien zu gehen, solange er noch genug Geld hatte. Und da hatte er vor drei Wochen nach einem Ticket gefragt, und zufällig das zweite von den gecancelten bekommen! Das Löschen und Laden, sowie die Proviantübernahme dauern noch die ganze Nacht. Leise begleitet das Klopfen der Hilfsdiesel meinen Schlaf. Am Vormittag kommen zwei Schlepper längsseits und übernehmen die Leinen. Wenige Personen stehen zum Abschied am Kai. Sind die Passagiere doch hauptsächlich Australier, die einen 14-tägigen Urlaub in Süd-Ost-Asien gemacht hatten, und nun zurückfahren. Und ein paar Einwanderer, wie die Cartwrights, John und ich…
Langsam schraubt sich das Schiff durch das Hafenbecken in Richtung Mole. Jetzt erst kann ich die Ausmaße des Hafens erkennen. Auf viele Becken verteilt liegen die Schiffe, dicht an dicht. Platz ist knapp. Singapur, die Drehscheibe Ostasiens. Alle Schiffe machen hier Station, sei es nur, um ihre Doppelbodentanks mit billigem Schweröl zu füllen. Andere eingehende Schiffe gleiten nah an uns vorbei. Ein Hauch ferner Länder streift mich wehmütig, wenn ich die Flaggen und Schornsteinfarben sehe. Wohl die Hälfte davon ist mir bekannt aus der Zeit, als ich noch vor dem Mast fuhr. Jetzt fahre ich in gewissem Sinne dahinter. John steht neben mir. Wir brauchen uns nichts zu sagen. Wir empfinden beide das Gleiche. Wieviele Male haben wir das während unserer Seefahrtszeit verspürt, dieses traurige und glückliche Gefühl zugleich, wenn die Schuppen und Kräne zurückfallen, bald die Schleppleinen ausklinken und ins Wasser fallen und die Schlepper beidrehen und langsam zurückdampfen oder träge auf ein eingehendes Schiff warten. TUUUUT TUUUUT TUUUUT dröhnt das Nebelhorn, die Flagge wandert vom Flaggenstock achtern auf die Gaffel des Signalmastes. Irgendwo klingelt ein Maschinentelegraph, kurz darauf geht die Maschine auf volle Drehzahl. Das Blubbern des Schornsteins weht mit leichten Abgasschwaden über das Deck. Noch begleiten uns ein paar Möwen. Doch die werden es bald müde und folgen lieber einem heimkehrenden Fischkutter.
Sieben Tage Seetörn liegen vor uns. Sieben Tage Ruhe und Essen. Wir schippern entlang den unzähligen indonesischen Inseln. Fünf Stunden nach Auslaufen von Singapur kreuzen wir fast unbemerkt den Äquator in südliche Richtung. Hätte die Brücke nicht dreimal lang das Nebelhorn betätigt, um den Meeresgeistern unsere Durchfahrt anzukündigen, es wäre unbemerkt geblieben! Abends gibt es zu diesem Anlass einen Kostümball, wo auch Neptun und seine Meresgeister erscheinen. Die Passagiere, vor allem das Dutzend der sich an Bord befindenden Kinder, haben daran große Freude. Es herrscht reger Verkehr in diesen Gewässern. Unzählige Fischerboote durchsieben das Meer, Fähren bewegen sich in alle Richtungen, dazu kommen noch die Frachtschiffe, die aber meist auf Parallelkurs fahren, weil sie alle das gleiche Ziel haben: die Sundastraße, ein etwa 20 Kilometer breites Nadelöhr zwischen Sumatra und Java. Eine der meist befahrenen Meeresengen der Welt. Ich habe mich mit John bis zur Brücke durchgemogelt, halten uns aber im Hintergrund. Zu groß ist die Anspannung da oben. Ab und zu zucken wir zusammen, wenn über uns das Nebelhorn aufdröhnt, um einen Schläfer (auf See natürlich) aufzuwecken, bevor es gefährlich wird. Meist ändern wir den Kurs, um eine Kollision zu vermeiden, weil der Andere sich nicht rühren will. Er denkt wohl, dass dieses seine Heimatgewässer sind. Zum Glück passieren wir die Meeresenge am Vormittag, während es hell ist und die Sicht gut. Dann ist freies Feld. Nur die Weihnachtsinseln liegen jetzt noch auf unserem Weg. Unser Kurs ist für die nächsten sechs Tage fast genau südwärts.
Читать дальше