„He, das war jetzt hart!“
„Stimmt aber. Er soll arbeiten lernen, sich durchsetzen können und kommunikativ sein und kein Eigenbrötler hinter dem Ofen, wie du es selbst gesagt hast. Er soll offen für alles Neue sein, von mir aus ein Global Player und am liebsten Politiker mit hohen Zielen.“
„Nö, nö, bitte kein Politiker, er soll wohl dein Ersatzsohn werden, der in der nächsten Generation deine vermasselten Träume verwirklicht?“
„Das ist unfair.“
„Wie du mir, so ich dir!“
„Er soll etwas Ordentliches werden und konkrete Dinge tun.“
„Ich schweige.“
„Architekt, Arzt, Forscher, Pilot, von mir aus auch Künstler, dessen Werke man versteht. In jedem Fall möchte ich stolz sein auf das, was er machen wird.“
„Paul, wir haben zum ersten Mal gravierende Meinungsverschiedenheiten. Sollen wir nicht das Problem vertagen und vor allen Dingen nicht im Zug diskutieren, wo jeder uns zuhören kann?“
„Ja, ja, wir sind sowieso gleich da. Bitte fertigmachen zum Umsteigen in Frankreichs Schaukelstuhl!“
„Wer meinen 2CV beleidigt, beleidigt mich.“
„Verstanden. Ich nehme den Schaukelstuhl zurück und nenne ihn ‚die fliegende Ente‘.“
„Schon besser und fast korrekt.“
„Ich hoffe, dass sich die schwarzen Wolken in unsrer Beziehung über Nacht verzogen haben.“
„Es ist bei uns ja schon wie bei einem Ehepaar: Am häufigsten gibt es Krach wegen der Erziehung der Kinder.“
„Ich sehe es positiv, dass wir uns streiten können und nachher wieder ganz normal miteinander sprechen, … das sollte Raoul auch können.“
„Volle Übereinstimmung. Und wenn wir gerade die Fronten klären, ich habe bisher nicht getraut zu fragen, ob ich wie bisher ‚Edouard‘ zu dir sagen soll oder deinen richtigen Namen ‚Pierre‘ benutzen darf, so wie dich Marie-Laure liebevoll genannt hat.“
„Non, non! Pierre gibt es nicht mehr, der ist irgendwohin verschwunden. Auch ich habe ihn aus den Augen verloren. Edouard ist meine Identität und so soll es auch bleiben. Und ein letztes Problem, das nur mich betrifft: Ich bekomme Nacht für Nacht lange Mails und SMS von … von meiner leider immer noch geliebten …“
„Marie-Laure. Oh ja, das hat man gleich gesehen, dass du da noch ein heißes Eisen im Feuer hast. Mein unmaßgeblicher Tipp: Entscheide dich für oder gegen sie, schaffe aber Klarheit. Alles andere wäre Quälerei für beide.“
„Paul, was würdest du machen?“
„Oh je, als Freund sage ich, lass sie in ihrem Umfeld, dort ist sie zuhause. Träumt lieber ewig voneinander und vermeidet jeglichen weiteren Kontakt. Nachdem ich aber gesehen habe, wie gut sie aussieht und wie sie dich anhimmelt, schnapp sie dir, so was Tolles kriegst du nie mehr wieder. Ja, ich weiß, dass das kein guter Rat ist, ja, ja, ich lege da auch meine eigenen Träume hinein. Ein solches Angebot hatte ich leider nie, nie …“
„Willst du sie haben?“
„Ist die Frage ernst gemeint? Würdest du sie mir überlassen?“
„Eh, tja, ja, weil du es bist.“
„Danke Edouard, das war nur ein Test. Ich weiß, dass es für mich zu spät ist für eine Bindung, außerdem ist Raoul viel wichtiger. Ich wollte dir nur ein Denkmodell geben, ob du sie so liebst und ob sie unverzichtbar für dich ist. Nein, das ist sie nicht, also sage ihr - so brutal es klingen mag - adieu. Für immer. Klipp und klar. Und ohne französische Schlupflöcher, es etwa in zwei Monaten nochmals zu probieren.“
„Danke. Merci. Ich glaube, dass es keinen größeren Beweis mehr für unsere Freundschaft gibt.“
„Eine solche Freundschaft habe ich mir ein ganzes Leben lang gewünscht. Ich habe nicht mehr daran geglaubt, sie noch zu finden.“
„Jetzt brauchen wir eine Flasche Madiran. Die wird es aber hier nicht geben, wir sind mitten im Burgund.
„Probieren geht über Studieren. Halt an, da vorne ist ein wunderschönes Schloss mit Weindegustation.“
„Santé! Auf unsere Freundschaft!“
„Auf Marie-Laure!“
„Auf Raoul!“
„Also, eines dürfen wir ihm niemals beibringen! Schon vor dem Mittag mit dem Weintrinken zu beginnen.“
„Öh, also Raoul hat einen französischen Paten … und der wird ihn à la française erziehen. Bei uns zählt Rotwein nicht zu den Genussmitteln, bei uns ist er einfach ein Lebensmittel. Oui, ein Mittel, das man zwingend zum Leben braucht. Täglich. Und zu jeder Tageszeit.“
„… und vor allem abends. Ich glaube, diese Runde der zukünftigen Erziehung habe ich verloren …“
„Oui, Raoul soll glücklich werden, und da ist Rotwein die beste Medizin. Und für logisch denkende Menschen wie dich noch dies: Mittlerweile ist wissenschaftlich gesichert, dass ein bis zwei Glas zu jeder Mahlzeit eine bessere Verdauung und eine flüssigere Durchblutung bewirken. Na, was sagst du jetzt?
„Zum Wohl!“
„Santé!“
„Bäh, das soll Wein sein? Ich probiere mal den teuersten … bäh, der ist ja widerlich. Kein differenzierter Geschmack, alle schmecken sehr ähnlich, egal ob jung oder alt, ob billig oder teuer. Wie weit ist Madiran von hier?“
„Nur 800 Kilometer.“
„Wo ist der nächste Supermarkt mit Weinabteilung?“
„Vor dem Dorf.
„Nix wie hin!“
„Den Göttern des Weines wieder einen Tag geopfert! Lieber Edouard, langsam, aber sicher meldet sich mein schlechtes Gewissen. Wir sind von zuhause abgehauen, um ungestört über Raoul und seine Zukunft reden zu können und wir tun kaum etwas Anderes als zu genießen und Frankreichs Weinvorräte zu vernichten. Ich gebe zu, dass ich mich dabei sauwohl fühle, keine körperlichen Probleme mit der Masse von Alkohol habe und kein Kopfweh mehr am nächsten Morgen. Ich bin also inzwischen geeicht und auf dem besten Wege, ein gutes Stück französischer zu werden, auch wenn ich gestern im Restaurant einen Tisch mit Jüngeren beobachtet habe, die Bier und Whisky zum Essen getrunken haben. Nein, sie haben nicht englisch gesprochen, sie waren von hier. Hast du einen vernünftigen Plan für die nächsten Tage?“
„Cher Paul. Eigentlich wollte ich dich überraschen, aber dein Wille sei mir Befehl: Wir schaukeln nach Avignon, dem Ziel unserer Reise. Und dort habe ich noch eine Überraschung für uns beide. Genügt das?“
„Ja, ja. Und dort lassen wir uns viel Zeit auf der Brücke, das Lied haben mir meine Kindermädchen beigebracht.“
„Bitte nicht singen!“
„Doch, doch, es sind die einzigen kleinen Sätze, die ich auf Französisch kann.“
„Okay, ich fahre hochtourig weiter, dann höre ich dich nicht so gut, leg los!“
„Also denn: ‚Sür le pong d’Avignong‘…“
„Mais non, ,le pont d’Avignon‘, nasal wie in ,Tampon
Chanson, Lyon’ …“
„Sür le pohn d’Avignohn…“
„Ja, schon etwas besser, aber nasal wie im französischen ‘non’, das hast du ja schon tausend Mal von mir gehört.“
„Sür le po d’Avigno, l’o ieh donse, l’o ieh donse, tutt o ro.“
„Superbe! Du bist spitze! Ich habe alle Wörter erraten, es muss eine vormittelalterliche Sprachvariante sein. Willst du das Lied nicht besser pfeifen, das wirkt fröhlicher?“
„Ja, gerne. Aber was haben wir daraus für Raoul gelernt?“
„Er muss im Land selbst, also hier in Frankreich, Französisch lernen.“
„Dann suchen wir ihm schon eine gute Sprachschule in Avignon, die Höhe der Kosten spielt keine Rolle.“
„Non, non, Avignon geht nicht, dort sprechen sie kein richtiges Französisch, sondern eine Dialektform, das Provenzalische, das klingt etwa so wie dein Französisch. Es muss Paris sein, am ehestens an der Sorbonne.“
„Sorbonne klingt würdig, ja, das machen wir. Das Beste ist gerade gut genug, am liebsten mit einem Privatlehrer.“
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