Von seinem Fenster aus hatte Valentin nun oft Gelegenheit, das wilde Treiben am Himmel zu beobachten. Der Schulalltag zwang ihn jetzt wieder regelmäßig an seinen Schreibtisch. Er hasste es.
Krach!
Gerade, wenn es ums Rechnen ging, war er nicht gerade das, was man ein Naturtalent nennt. Sein Lehrer hatte einmal gesagt, er sei ein hoffnungsloser Träumer, der es nie zu etwas bringen würde. Und so sehr er den glatzköpfigen Zahlenverdreher auch verabscheute, er hatte wohl Recht gehabt.
Es war inzwischen Mittwoch geworden. Wie erwartet, verzweifelte der ewige Träumer schon wieder an einer Aufgabe, die einfach keinen Sinn ergab. So ließ er seine Gedanken treiben, durchs Fenster und weit, weit weg, bis an den Horizont.
Krach! Krach! Krach..!
Ein infernalisches Blitzstakkato hatte die brodelnde Landschaft für einen Augenblick in ein gespenstisches Theater verwandelt. Bäume wurden zu Scherenschnitten, Krähen zu Gespenstern. Und schon bat ein Sonnenstrahl den nächsten Kreisel glühenden Laubs zum Gewittertanz.
Seit Sonntag tobte das Gewitter nun schon - vier Tage lang, und Besserung schien kaum in Sicht zu sein. Er schaltete das Radio ein, denn es war Zeit für den Wetterbericht.
Und da haben wir gute Nachrichten, frohlockte die äußerst verrauschte Wetterfee. Die Wolkenlücken...srrb werden immer größer...srrb, und die Nacht wird weitgehend sternenklar. Morgen soll es dann bei angenehmen 24 Grad doch tatsächlich einen prächtigen Spätsommertag geben. Die weiteren Aussichten sind auch hervorragend: Am Freitag...srrb Sonnenschein von früh bis spät...glucks...
Krach!
Valentin schaltete das Radio ab und versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch die Aufgaben sollten ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Niedergeschlagen betrachtete er sein Spiegelbild auf dem dunklen, von Regentropfen übersäten Fenster.
Natürlich gab es einen Grund für seine Geistesabwesenheit. Mafalda hatte ihn ausdrücklich davor gewarnt, auch nur einen Gedanken an diese Sache zu verschwenden. Aber er konnte dieses Thema einfach nicht ignorieren. So schob er die unlösbaren Aufgaben zur Seite und schaltete seinen Computer ein. Mit zitternden Fingern tippte er in der Suchmaschine auf den Buchstaben C . Dann folgten l und u und schließlich der Rest des Begriffs Clumsy Kraus. Er drückte auf OK und verfluchte sich dafür. Zu spät...
Schon erschien ein dünner Ladebalken auf dem Monitor, der sich stahlgrau verfärbte und schließlich die Gestalt blitzenden Stahls annahm. Der stählerne Balken stieg bedrohlich an, vervollständigte sich und sauste schließlich auf ihn herab wie das Fallbeil einer Guillotine.
Runter mit seinem Kopf!
Und schon fiel Valentins abgeschlagenes Haupt zu Boden, rollte ein wenig und starrte dann mit weit aufgerissenen Augen auf das bunte Bild mit dem dummen Jungen, der nun für alle Welt seinen altmodischen Anzug präsentierte...
" Was wischst du denn da für ein komisches Zeug vom Fenster? ", rief die Stimme eines Mädchens, das neben dem Tollpatsch auch noch die obersten Kugeln von einem Erdbeereis filmte. Platsch!
" Vogelkacke ", gab der Dummkopf zu und ließ die Schultern hängen. Das Kamerabild begann nun zu wackeln, da das Mädchen mit dem Eis vor Lachen fast umfiel.
Vogelkacke - so hieß der Film der neuen Seite, die man passenderweise Clumsy Kraus genannt hatte. Clumsy Kraus war beliebt und hatte mittlerweile 1229 begeisterte Fans - schließlich wurde auf Clumsy Kraus so einiges geboten. Neben dem Film gab es nämlich auch ein kleines Spiel, in welchem man dem dummen Jungen lustige Kleider anziehen konnte. Vom Matrosen-Anzug bis hin zum Suppenkasper war alles aufgeboten, was der Kleiderschrank hergab. Der Phantasie waren also keine Grenzen gesetzt, wenn man Clumsy Kraus verunstalten wollte. Und es war zweifellos gut gemacht.
Hier hatte sich jemand wirklich Mühe gegeben und seiner Kreativität freien Lauf gelassen, mit viel Liebe zum Detail. Wahrhaft! Was für ein dämlicher Trottel!
Der dumme Junge schaltete seinen Computer aus und setzte seinen abgeschlagenen Kopf auf seinen Hals. Dann starrte er in die düstere Gewitterlandschaft, die nun keinem Sonnenstrahl mehr auch nur eine Sekunde gewährte.
Kapitel 12 - Krächzende Spione
Es zeigte sich, dass die Wetterfee mit ihrer Vorhersage tatsächlich danebenlag. Am nächsten Morgen zuckten nämlich nicht nur die Blitze vom Himmel herab, sondern es regnete auch ununterbrochen weiter.
Die Krähen ließen sich davon natürlich nicht beeindrucken. Seelenruhig warteten sie in den Ästen ihrer geliebten Trauerweide - was ihr Lieblingsopfer inzwischen aber längst nicht mehr wunderte, da sie diese Marotte nun schon seit Wochenbeginn an den Tag legten.
Doch eines hatte sich in der Tat verändert: Ihr Krächzkonzert begann nun bereits lange bevor die Tür geöffnet wurde. Um zwölf nach sieben waren sie offenbar der Meinung, er solle jetzt gefälligst in die Gänge kommen und das Haus verlassen.
Die geheimnisvollen Vögel hatten ein erstaunliches Gespür für die Zeit entwickelt. Sie schienen ihr Zielobjekt mit scharfem Krähenauge zu studieren und mit seinem Tagesablauf bestens vertraut zu sein - wie Spione, die allerdings keinerlei Wert auf Unauffälligkeit legten. Und es war kaum zu übersehen, dass sie sich sehr bemühten, ihre Vorgehensweise von Tag zu Tag zu perfektionieren.
Waren sie Valentin am Wochenanfang noch wie die Kletten gefolgt, so begnügten sie sich mittlerweile, ihm einfach ihren Späher auf den Hals zu hetzen. Dabei handelte es sich um eine etwas unbeholfen flatternde Krähe, die ein wenig kleiner geraten war als ihre Artgenossen und auf eine gewisse Art und Weise immer dem Herzinfarkt nahe schien. Das gehetzte Tier hatte ganz offensichtlich die Aufgabe, die übrige Schar zu rufen, falls das Zielobjekt vom gewohnten Weg abwich.
Schon gestern war Valentin auf die Idee gekommen, ein wenig Verwirrung im Kopf des flatternden Plagegeists zu stiften. Er war dabei ganz plötzlich in irgendeinen belanglosen Feldweg abgebogen und anschließend noch ein bisschen im Kreis gegangen - mit der Folge, dass der Krähenspäher nun immer genau an dieser Stelle zur Zwischenlandung ansetzte.
Der besagte Weg war also registriert, für relevant befunden und in eine Art Raster aufgenommen worden. Das kräheneigene Koordinatensystem sozusagen. Und so sehr Valentin das ständige Geflatter auch auf die Nerven ging, er musste zugeben, dass die Biester bis in die kleinste Feder durchorganisiert waren - wie ein militärisches Regiment.
Auch an diesem Morgen machte der Vogel natürlich seine obligatorische Landung am Eingang des besagten Feldweges. Und er flog erst dann weiter, als kein Zweifel mehr bestand, dass sein Zielobjekt auch tatsächlich die gewohnte Route zur Bushaltestelle einschlug.
Die Bushaltestelle war eine knorrige Eiche, an welche man ein sehr behelfsmäßiges Schild mit dem Wort BUS genagelt hatte - zu mehr hatte es nicht gereicht. Das Örtchen war eben viel zu unbedeutend, um mit einer richtigen Haltestelle gesegnet zu werden. Mit einem Kugelschreiber hatte man noch die Information Fährt nur Werktags um 20 nach 7 und 14 Uhr dazugekritzelt, damit derjenige, der auf die Idee kam, diesen Dienst tatsächlich in Anspruch zu nehmen, auch gleich wusste, in welchen Gefilden er sich befand. Und dass sich der Bus allenfalls erbarmte , einen Abstecher in diese gottverlassene Gegend zu machen.
Kaum hatte Valentin die Eiche erreicht, da stieß der Krähenspäher auch schon seinen Schrei aus. Und nur wenige Augenblicke später wurde der knorrige Baum von der übrigen Schar bevölkert, die nun ebenfalls auf den Bus wartete. Die Tiere waren inzwischen sehr routiniert, kein Vergleich mehr zu dem unbeholfenen Verhalten, welches sie noch zu Wochenbeginn an den Tag gelegt hatten - bei ihrer wohl ersten Begegnung mit einem öffentlichen Verkehrsmittel.
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