1 ...6 7 8 10 11 12 ...49 Gelegentlich ergänzten die in aller Regel gälischen Flurbezeichnungen die Anschrift des Empfängers.
Schließlich war man hier inmitten der An Ghaeltacht Area , also ebenfalls ein Teil Irlands, in dem noch Gälisch gesprochen wurde.
Auf vielen Hinweisschildern waren hier die Ortsbezeichnungen ausschließlich in gälischer Sprache ausgewiesen, was fremden Besuchern die Orientierung nicht gerade leicht machte.
Wenn man zum Beispiel nach Dungloe wollte, hätte man diesen Ortsnamen auf den Verkehrsschildern vergeblich gesucht. Hier in der An Ghaeltacht Area fand man fast ausschließlich den gälischen Namen An Clochàn Lìath vor.
Im Gegensatz zu den meisten heute verwendeten Namen waren die gälischen Bezeichnungen wesentlich ausdrucksstärker und vielsagender, man könnte sogar sagen poetischer.
An Clochàn Liath zum Beispiel stand für At the grey rocks (An den grauen Felsen) und beschrieb doch zumindest rudimentär den so bezeichneten Ort auch für jemanden, der noch niemals dort gewesen war.
Allerdings hätten die Kelten für eine einigermaßen treffende Charakteristik des Ortes An Clochàn Lìath ein ganzes Buch füllen müssen, um auch nur annähernd die Schönheit, seine sie einschließende und umgebende traumhafte Meeresbucht, die in Richtung Maghery ( An Màchaire ) aufragenden Berge und Klippen, die steil ins Meer fallen und von oben den Augen des Betrachters atemberaubende Ausblicke ( Breathtaking Views ) boten, zu beschreiben.
Jeder Schriftsteller würde doch die Bezeichnung Daona Fàsta erfinden, wenn er die Fantasie dafür hätte, um das Wort Adult (Erwachsener) ersetzen zu können. Klang nicht Dhùn na nGall im Vergleich zu Donegal wie die Ouvertüre einer italienischen Oper?
In Victors Heimatdorf Doochary kannte man sich, und zwar jeder jeden. Kein Geheimnis hätte so geheim sein können, als dass es nicht in kürzester Zeit zu Allgemeinwissen mutiert wäre. Einsteins Relativitätstheorie basiert ja bekanntlich auf der Tatsache oder Annahme, dass sich nichts, aber auch gar nichts schneller ausbreitet als das Licht. Aber hier irrte der gute alte Albert Einstein. Eine Ausnahme bildeten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Neuigkeiten und Gerüchte in und um Doochary. Demzufolge müssten eigentlich alle physikalischen Gesetze neu definiert werden.
Die Formel E=mc2, die die scheinbar unendliche Energie der Sterne durch Spaltung der Atome bezeichnete, müsste ersetzt werden durch D=gn2, gleichbedeutend für:
D(Doochary) = G(Gerücht) * N(Neuigkeit)2
Aber das war Victor nie so sehr aufgefallen, zumindest hatte es ihn nicht weiter gestört. Schließlich hatte er keine Geheimnisse, insbesondere nicht gegenüber seiner Mutter. Genauer betrachtet konnte er gar keine Geheimnisse haben, oder besser ausgedrückt, seine Mutter gestand ihm keine Geheimnisse zu.
Und in diesem ach so behüteten Umfeld wuchs Victor Vaughan auf.
Aber Doochary bot durchaus auch Einrichtungen der Grundversorgung. Es gab neben der Grundschule zum Beispiel eine Arztpraxis. Nicht dass diese täglich geöffnet gewesen wäre, nein, das wäre auch gar nicht erforderlich gewesen. Probleme gab es nur damit, dass die Sprechstunden von Dr. Tanner, der die Praxis betrieb, nicht eindeutig geregelt waren. Geöffnet war, wenn es zeitlich betrachtet nach seinem Behandlungsplan möglich war. Das konnte theoretisch zu irgendwelchen Zeiten an irgendwelchen Wochentagen sein. Und damit seine potentiellen Patienten auch wussten, dass er anwesend war, hisste er die orange-weiß-grüne Nationalflagge der Republik Irlands an seinem Haus. Die Fahne konnte man von weitem erkennen und so ersparte es den Patienten unnötige Telefonkosten und Zeit. Daher konnte man dieses Beispiel als ein funktionierendes Kommunikationswesen irischer Prägung bezeichnen, ohne dazu elektrische Energie oder Übertragungskabel zu benötigen. Ein vielversprechendes Hinweisschild im Fenster seiner Praxis weckte jedoch einige Qualitäts-Erwartungen bei den Patienten: Health Center An Duchoraidh.
Victors Mutter liebte den Blick aus ihrem Wohnzimmerfenster auf die gegenüberliegende Uferseite des Gweebarra, die noch wesentlich wilder, rauer, bewaldeter und weniger bebaut war als die rechte Flussseite, an der sie mit ihrer Familie wohnte.
Barbaras Blick ruhte dann zunächst auf der glitzernden Wasserfläche des Flusses, um dann auf die dahinterliegenden hoch aufragenden Berge zu wandern. Diese Berge, deren untere seichtere Hügelketten nach dem Ankauf durch die staatliche Försterei wieder mit Kiefern, Tannen und Fichten bewachsen waren und somit mit ihrem satten Immergrün einen willkommenen Kontrast bildeten zu dem Blau des Wassers und den beigefarbenen, violetten und rostbraunen Farbtönen der Gras- und Heideflächen in direkter Ufernähe. Einige kleine Sandbänke, die der Fluss im Laufe der Zeit ausgewaschen hatte, gaben dem Gesamtbild ein fast mediterranes Aussehen. Nur die Wassertemperaturen luden nicht unbedingt zum Baden ein.
Kein Bild in den Museen dieser Welt ging so verschwenderisch mit den Farben um wie die Natur es an dieser Stelle tat. Allein die Menge der Grünfarbtöne war unzählbar. Manche behaupteten, dass es in Irlands Natur über eintausend Grünfarbtöne gäbe.
Auf dieser linken Uferseite führte ein schmaler Weg etwas oberhalb des Ufers entlang an einigen einsamen Häusern und Cottages vorbei. Dieser Weg verzweigte sich im weiteren Verlauf nach rechts in die Berge und danach weiter zum offenen Atlantik, und zur anderen Seite links über die R250 in Richtung Glenties.
Glenties war der nächste größere Ort in Richtung Ardara und wurde als wesentlich „englischer“ als die Orte der An Ghaeltacht Area bezeichnet. Die Aussprache der Einwohner von Glenties konnte man im Vergleich zu der englischen Aussprache der Menschen in und um Doochary fast schon als Oxford-Englisch bezeichnen. Zu sehr verwachsen und ineinander übergegangen waren im irischsprachigen Teil des Landes die gälischen und englischen Begriffe, Wörter und Wortphrasen. Erschwerend kam für Fremde hinzu, dass von den hier lebenden Menschen viele Silben einfach verschluckt oder unterdrückt wurden. Sie wurden für den Sinn des Ganzen nicht benötigt und waren somit überflüssig und demzufolge deren Artikulation Zeit verschwendend.
Vor allem liebte Barbara es, wenn die Sonne den Gweebarra in eine glitzernde Spiegelfläche verwandelte, so dass es beinahe weh an den Augen tat, ihn länger anzuschauen. In diesem überdimensionalen Spiegel sah sie dann die gesamte Böschung noch einmal in gleicher Stärke und Farbkraft wie eine spiegelverkehrte duale Welt.
Oft wurde der Regen, aufgewirbelt durch die Stürme des atlantischen Ozeans, nur als sprühende, nebelartige Gischt in die Gweebarra-Bucht hinein geblasen, so als würde eine komplette Kompanie an Autowäschern mit hunderten von überdimensionalen Hochdruckreinigern das Wasser in den sich in Richtung Doochary immer weiter verengenden Fjord hinein pressen. Dieses Wasserschauspiel glich dann eher einer undurchsichtigen Nebelwand aus Trilliarden einzelner verstäubter Miniwassertröpfchen als einem gewöhnlichen kontinentalen Regenschauer. Nicht selten wechselten sich diese Ereignisse in der nächsten Sekunde mit Auflockerungen und Sonnenschein ab. In solchen Situationen umspannte der kompletteste, strahlend schönste und farbenfrohste Regenbogen, den je ein Mensch gesehen hatte, den Gweebarra, so als hätte Picasso mit den schönsten Farben, die sich auf seiner Farbpalette befanden eines seiner monumentalen Bilder auf einer überdimensionalen transparenten Leinwand festgehalten.
Dieser Anblick versetzte Barbara regelmäßig in eine dermaßen sentimentale Stimmung, dass sie häufig an ihre ach so behütete Kindheit in diesem Haus zurück dachte und ihre Augen sich vor Rührung mit Tränen füllten.
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