Barbaras Mann würde man landläufig wohl als Luftikus bezeichnen. Er selbst hielt sich eher für einen Lebenskünstler, einen, der alles und nichts konnte, und zwar alles, was Spaß machte und nichts, was mit dauerhafter Arbeit zu tun hatte. Kaum dass er mal eine feste Anstellung über einen längeren Zeitraum hatte.
„Dazu bin ich nicht geboren“, sagte er dann immer, wenn die Diskussion auf dieses Thema kam. „Ich bin nicht der Sklave der Herrenrasse. Ich bin mein eigener Herr und entscheide selbst, wann ich wie lange und für wen arbeite.“
Das war weniger eine Erklärung oder gar Entschuldigung gegenüber anderen als mehr die Beruhigung seines eigenen schlechten Gewissens und der Skrupel seiner Familie gegenüber, sofern ihn der Begriff und die Bedeutung des Wortes Skrupel überhaupt tangierte.
Aber die Einstellung ihres Mannes beeinträchtigte Barbara schon lange nicht mehr. Sie ging mehr und mehr in der Aufgabe auf, sich um ihr einziges Kind zu kümmern, es heranzubilden und zu disziplinieren. Und das tat sie nach ihrer Ordnung, einer aus der Tradition begründeten, erzkonservativen Grundhaltung heraus entstandenen Methode. So, wie auch sie schon von ihren Eltern erzogen worden war. Wie auch Barbara, waren schon deren Eltern Margret und Tom sehr religiös gewesen. Denn auch Victors Großeltern waren von deren Eltern traditionsbewusst und streng katholisch erzogen worden, so dass diese Denkweise bereits tief in der Familienvergangenheit verwurzelt war. Und so verstand es sich beinahe von allein, dass Margret und Tom diese Religiosität und Dienstbarkeit auch an ihre Tochter Barbara weiter gegeben hatten. Glaube an die katholische Kirche und Gehorsam oder besser Hörigkeit gegenüber den Eltern und Erwachsenen im allgemeinen und vor allem gegenüber der regierenden Obrigkeit in Person ihrer Vertreter, das waren die Attribute, nach denen irische Kinder zu der Zeit erzogen worden waren. Und welchen Grund hätten die Großeltern haben sollen, mit dieser Tradition zu brechen und Barbara gegenüber eine andere als diese bewährte Erziehungsmethode anzuwenden?
Barbara empfand ihre Erziehung auch niemals als autoritär, sie war normal. Sie übernahm ohne großartig darüber nachzudenken ihrerseits eigentlich nur diese traditionellen Werte und gab sie an Victor weiter.
Barbaras Haus betrat man durch einen kleinen Windfang, dessen Tür sich durch die Feuchtigkeit bereits verzogen hatte und inzwischen schwer zu öffnen war. Über einen kleinen Flur erreichte man links ein kleines Wohnzimmer, das Barbaras Eltern aber kaum benutzt hatten. Barbara selbst hatte es nie erlebt, dass jemals ein Feuer in dem dortigen durchaus apart aussehenden offenen Kamin gebrannt hätte. Über eine weitere Tür erreichte man den eigentlichen Wohnraum. Dieser für die Größe des Hauses großzügig geschnittene Raum diente gleichzeitig als Küche, Esszimmer und Wohnraum. So fand man hier auch alle zu diesen Zwecken notwendigen Einrichtungsgegenstände. Eine kleine Einbauküche mit Waschmaschine, ein Herd, der zum Heizen und gleichzeitig zum Kochen eingesetzt wurde, einen kleinen Esstisch mit drei Stühlen inmitten des Raumes sowie im Anschluss in der Nähe des großen Fensters eine Couch mit zwei Sesseln. Dem gegenüber stand der Fernseher, inzwischen schon ein Flachfernseher mit Satelliten -Empfangsschüssel. Die Sessel passten weder farblich noch formtechnisch zur Couch. Aber das hat hier niemals wirklich jemanden gestört. Dieser Raum war der Lebensmittelpunkt der Familie, und das seit jeher. Hier wurde gekocht, gewaschen, gegessen, geredet oder das RTE -Fernsehprogramm gesehen.
Dieser Raum war, wie auch alle anderen Räume übersäht mit Heiligenbildern und Kreuzen. Jede freie Stelle an den Wänden wurde genutzt, irgendeinem Heiligen einen Platz zu bieten.
Vor allem fiel die große Zahl an St. Bridget- Kreuzen auf. Diese Kreuze erinnerten an die aus einigen Strohhalmen geformten Kruzifixe, wie sie die heilige St. Bridget in ihrer Arrestzelle aus dem Stroh ihrer Schlafmatratze geformt hatte. Die St. Bridget Kreuze wurden jedes Jahr am letzten Tag im Januar von den Frauen der Nachbarschaft aus frischem Binsengras nach einer komplizierten Flechttechnik erstellt und noch am gleichen Abend vom Priester geweiht.
Im hinteren Teil des Hauses befanden sich das Badezimmer und ein kleines Schlafzimmer. Zwei weitere kleine Schlafzimmer befanden sich im Dachgeschoß des Hauses.
Hinter dem Haus hatten sich schon Barbaras Eltern Margret und Tom einen kleinen Gemüsegarten angelegt, in dem sie einige Kartoffelreihen, Petersilie, Schnittlauch, Karotten und weitere Gemüse und Kräuterarten für den Eigenbedarf anbauten. Viel wuchs hier eh nicht in dieser torfhaltigen Erde. Guter Mutterboden war teuer und kaum zu bekommen. Diesen Garten hatte Barbara nach dem Tod ihrer Eltern noch ausgeweitet und um herrlich blühende Stauden und Einjahresblumen komplettiert. Ein buschartiger Apfelbaum bildete nun den Mittelpunkt des Gartens. Dadurch wirkte dieser fast wie ein britischer Bilderbuch-Vorgarten. Vor dem Haus hatte sie eine größere Fläche geteert, die sie als Parkraum nutzte. Darüber hinaus half ihr diese Maßnahme, den Vorplatz ohne großen Aufwand sauber zu halten, zumal sich ihr Mann an der Instandhaltung und Pflege des Hauses in keiner Weise beteiligte.
Barbaras Haus stand in der Nähe des kleinen Ortes Doochary. Es lag an der Strasse, die sich entlang des rechten Ufers des Gweebarra-River an dem Bergrücken schmiegte, der das Gweebarra -Tal vom angrenzenden hohen Bogland , also dem Moorgebiet, trennte. Die Strasse führte dann im weiteren Verlauf zur N56, die von Donegal Town kommend über Killybegs, Ardara und Glenties nach Dungloe führte, um dann weiter durch die Rosses, vorbei an Bloody Foreland und im weiteren Verlauf an der Nordküste entlang wieder hinunter nach Letterkenny alle wichtigen Orte Nordwestirlands miteinander zu verbinden.
An Duchoraidh , wie Doochary in irischer oder gälischer Sprache hieß, phonetisch so etwa wie Dùherie klang, und soviel wie „Furt aus schwarzer Eiche“ -früher war wohl an der Stelle der heutigen Brücke über den Gweebarra-River eine Furt aus Eiche gebaut- bedeutete, lag an der R252 von Fintown kommend Richtung Dungloe. Das R in der Straßenbezeichnung stand für Regionalstrasse, nach den M-Strassen, den Motorways oder Autobahnen und den N-Strassen, den Nationalstrassen die Strassen der dritten Ordnung. Die Qualität von Regionalstrassen ließ häufig zu Wünschen übrig. Schlechter waren nur noch die Strassen der vierten Kategorie, die L-Strassen, also die lokalen Strassen. Diese würde man landläufig eher als Wirtschaftswege bezeichnen.
Erreichte man den Ortseingang von Doochary, hatte man wenig später den Ort auch schon wieder verlassen.
Vorbei an dem einzigen Pub und dem Grocery Store , einem Tante Emma Laden, der gleichzeitig als Postoffice diente, und einigen Wohnhäusern ging es über eine Rechts-Links-Kurvenkombination wieder aus dem Ort hinaus, hoch in die kahlen, mit Heide bewachsenen Berge Richtung Dungloe.
Diese von den Einheimischen corkscrew genannte Kurvenkombination bezeichnete die Straße, die sich korkenziehergleich in mehreren Serpentinen um eine gedachte Seele vom Gweebarra-Tal in das hoch gelegene Bogland schlängelte, in dem noch immer, zumindest in den wärmeren Monaten, fast täglich Torf gestochen wurde, um Häuser und Menschen in den nasskalten Wintermonaten trocken und warm zu halten. Denn Torf war in dieser Gegend immer noch das wichtigste Brennmaterial.
Vor der ersten haarnadelscharfen Linkskurve befand sich die Primary School , also die Grundschule von Doochary. In dieser Kurve zweigte eine schmale Nebenstrasse ab, die sich durch den wilden Teil des Glenveagh-Nationalparks schlängelte. Folgte man einige Meilen dieser kleinen Schotterstraße, dann führte sie kurz vor Churchhill in einer 90-Grat- Rechtskurve weiter nach Letterkenny.
Читать дальше