Kurz hinter dem Ortseingang von Doochary überquerte man die denkmalgeschützte Brücke über den Gweebarra River, der an dieser Stelle noch recht schmal war. Bei Anglern war diese Stelle jedoch äußerst beliebt. Bei Gott, war doch der Gweebarra für sie hier ein echtes Angler-Eldorado. Denn zur richtigen Jahreszeit war an dieser Stelle der Fluss prallgefüllt mit Lachsen. Denn mit dem Meerwasser des Atlantiks, das bei jeder Flut in den Gweebarra gepresst wurde und das spärliche Süßwasser des Flusses zu einem salzigen Mischwasser machte, kamen auch die Lachse weit ins Landesinnere.
Auch Victors Vater angelte, sobald die Saison eröffnet war, regelmäßig im Gweebarra River. Mit den Fängen trug er zumindest ein wenig zum Lebensunterhalt seiner Familie bei. Häufig nahm er seinen Sohn mit, der dann ebenso begeistert wie sein Vater mit seiner kleinen Angel die großen Lachse zu fangen versuchte, was ihm jedoch nur selten gelang. Allerdings lehrte sein Vater ihm schon recht früh, wie man mit den großen scharfen Messern umzugehen hatte, um die Fische fachgerecht auszunehmen und zu zerlegen.
„Sei vorsichtig, wenn du die Fische ausnimmst. Die Messer sind so scharf, dass du einem Schaf mit einem Schnitt den Kopf abtrennen könntest“, hatte sein Vater ihn immer wieder darauf hingewiesen, wie nützlich aber auch wie gefährlich der Umgang mit den scharfen Messern war.
Eines Tages hatte sein Vater ihm das Geheimnis der Lachse erklärt:
„Weißt du eigentlich, Victor, warum die Lachse immer wieder aus dem Wasser springen, wenn sie in unseren Gweebarra River schwimmen?“
„Nein, Vater, aber erklär es mir bitte!“, war Victor immer lernbegierig nach Anglerweisheiten.
„Also, dass die Lachse zum Laichen in die Süßwasserflüsse kommen, das weißt du ja bereits. Aber, warum sie dabei immer aus dem Wasser springen, das hat eine besondere Ursache.“
„Erzähl schon, Dad, spann mich nicht so sehr auf die Folter. Ich möchte es jetzt wissen.“
„Wenn die Lachse aus dem Atlantik in den Gweebarra schwimmen, sind ihre gesamten Körper über und über mit Meeresläusen versehen. Das ist ganz normal. Diese Parasiten findet man an vielen Fischarten. Um ihre ebenfalls befallenen Kiemen von diesen lästigen Plagegeistern zu säubern, springen die Lachse aus dem Wasser, damit der „Fahrtwind“ sie von den Läusen reinigt.“
„Und wie lange müssen die Lachse aus dem Wasser springen, bis die Läuse endlich verschwunden sind?“, wollte Victor von seinem Vater wissen.
„Maximal bis zu 24 Stunden können diese Meeresläuse im Süßwasser überleben. Und daran kannst du sehr gut erkennen, wie lange sich die Lachse schon im Süßwasser befinden, um zu laichen. Also einen kompletten Tag nach Verlassen des Meersalzwassers schimmern die Meeresläuse noch silbrig glänzend an den Körpern der Lachse. Sobald diese nach dieser Zeitspanne abgestorben sind, leuchtet die Lachshaut dann eher gold-bräunlich glänzend. Und das ist das Zeichen für alle Angler, diese Lachse nicht mehr zu fangen, da sie bereits reif fürs Laichen sind. Und es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass nur die frisch aus dem Meer herein geschwommenen, silberfarbenen Lachse gefangen werden dürfen. Und dieses Gesetz wirst auch du immer beachten, Victor.“
„Natürlich, Vater, niemals würde ich ein Gesetz missachten.“
„Das weiß ich, mein Sohn.“
„Verhalten sich eigentlich alle Lachse auf der Welt gleich?“, wollte Victor wissen.
„Grundsätzlich ja. Alle Lachse müssen zum Laichen aus dem Meer teilweise weit in die Süßwasserflüsse hinein schwimmen. Aber es gibt da beispielsweise einen gewaltigen Unterschied zwischen den amerikanischen und europäischen Lachsen. Die amerikanischen Lachse kommen nur einmal in ihrem Leben zum Laichen in die Flüsse. Danach sterben sie. Ihre europäischen Verwandten können mehrmals in ihrem Leben zum Laichen in die Süßwasserflüsse kommen. Das heißt, einige von den Lachsen, die du hier sehen kannst, kommen schon einige Jahre in den Gweebarra.“
„Das ist eine schöne Geschichte, Dad. Stimmt sie auch?“
„Natürlich stimmt sie. Und morgen bekommst du deine eigene Angel. Aber ab sofort wirst du die von dir gefangenen Fische auch selbst ausnehmen. Ist das ein Angebot?“
„Toll, Dad, danke.“
„ Aber nun komm, für heute ist es spät genug geworden.“
Die Straße, an der Victor mit seiner Familie ihr kleines Haus bewohnten bog im rechten Winkel etwa in der Ortsmitte hinter dem Pub nach links Richtung Lettermacaward ( Leitir Mhic an Bhaird) ab, das von den Einwohnern wegen der Namenslänge nur kurz Leitir (phonetisch: Letscher) genannt wurde. An ihr lag auch die einzige Kirche von Doochary. Da man sich in Irland befand, verstand es sich fast von selbst, dass es sich um eine katholische Kirche handelte.
Jeden Sonntagmorgen vollzog sich im Hause Vaughan nach dem Frühstück das gleiche Ritual:
„Bist du fertig zum Kirchgang, mein lieber Junge?“ fragte Barbara dann ihren Sohn Victor.
„Warum soll ich schon wieder zur Kirche gehen?“, dachte Victor immer häufiger in solchen Situationen. Aber niemals würde er es aussprechen, niemals würde er seiner Mutter widersprechen. Also antwortete er aus seinem Zimmer:
„Nur noch eine Sekunde Mum, ich ziehe mir noch schnell meine Jacke über“.
Danach gingen beide gemeinsam zur einzigen Sonntagsmesse, die um zehn Uhr begann. In der Kirche nahmen sie immer an derselben Stelle ihre Plätze ein, dritte Reihe rechts unmittelbar am Mittelgang des Kirchenschiffes. Niemand im Ort wäre jemals auf die Idee gekommen, diese Plätze für sich in Anspruch zu nehmen. Sie waren zwar nie fest zugeteilt worden, es hatte sich aber einfach so entwickelt, dass jeder Kirchgänger im Laufe der Zeit seinen ihm angestammten Platz einnahm. Und kein anderer Kirchenbesucher wäre jemals auf die Idee gekommen, einem anderen dessen Sitzplatz streitig zu machen. Häufig wurden diese Stammplätze sogar innerhalb einer Familie über Generationen weiter vererbt, ohne dass sich daraus ein Streitpotential entwickelte. Schließlich gab es ja genügend Sitzplätze in der Kirche, deren Proportionen bei ihrer Erbauung wohl auf einen enormen Wachstumsboom in Doochary in der näheren Zukunft ausgerichtet worden war. Leider, aus gebäudeästhetischer Sicht, hatte die Kirche keinen Glockenturm. Dieser Missstand ließ den gelb gestrichenen massigen Baukörper noch etwas plumper wirken als er eh schon war.
Nicht einmal eine Grippeerkrankung mit 39 Grad Fieber hätte Barbara als Entschuldigung dafür gelten lassen, nicht mit Victor die Messe zu besuchen. Das war einfach eine heilige Pflicht, deren Versäumnis durch nichts aber auch gar nichts entschuldbar gewesen wäre. Und das galt ebenso für sie als auch für ihren Sohn. Schließlich hatte Jesus seinen Leidensweg vor über 2000 Jahren auch durch nichts abwenden können.
In den Nachbargemeinden wurde Doochary scherzhaft, aber auch spitzfindig und ironisch als Sleeping Village bezeichnet. Und daran war mehr als nur ein Stückchen Wirklichkeit, es traf haargenau den wahren Kern. Ganz gleich zu welcher Tageszeit man durch den Ort fuhr, man traf fast nie einen Menschen auf der Straße an.
Deserted Town . Geisterstadt. Verlassen von frustrierten Einheimischen, vergessen von der Kartoffelpest, vergessen von den Auswanderungsschiffen nach Amerika und dem Rest der Welt.
Fucking Forgotten Sleeping Village!
Nicht einmal die Hauptstrasse hieß Main Street, wie sonst in allen kleinen irischen Orten. Hier brauchte es keine Straßennamen.
Barbara Vaughan, Doochary, County Donegal reichte als Anschrift auf Briefen vollkommen aus, um den Adressaten zu erreichen. Dem zuständigen Postman hätte allein schon der Name des Empfängers ohne irgendwelche ergänzenden postalischen Zusatzangaben ausgereicht, um die Post korrekt zuzustellen.
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