Ansonsten habe ich nur noch hinzuzufügen, dass meine Aufgabe eigentlich nur die eines bescheidenen Handwerkers war, der sich auf sein graphologisches Geschick und seine Augen verlassen musste, denn der Zahn der Zeit und ein während der Zerstörung von Marsopolis ausgebrochenes Feuer haben den handschriftlichen Seiten arg zugesetzt. Es ging darum, die teilweise schwer lesbare und noch dazu rauchgeschwärzte Schrift des Quotenmannes fehlerfrei zu entziffern, damit dieses großartige Zeugnis einer Zivilisation, die für einige Jahre das leuchtende Zentrum des Universums war, jedem zugänglich sei.
Till Angersbrecht
Wie konnte das nur passieren?
Sein Name war Ego – schlicht und einfach Ego ohne jede Vor- oder Nachbezeichnung. Aber er war weder ein Egoist noch konnte er sich eines besonderen Ichgefühls rühmen, wie der Name ja eigentlich nahelegt. Im Gegenteil, sein Ich war kümmerlich unterentwickelt, denn in aller Selbstlosigkeit ging er voll und ganz im Dienst der Gemeinschaft auf. Glück brachte ihm dieser Dienst freilich nicht. Wenn man seit beinahe zwei Jahrzehnten in Marsopolis, der Stadt der Frauen, mit diesem Ding herumlaufen muss, dann liegt das Glück eher fern!
Dabei fehlte es Ego keinesfalls an professioneller Korrektheit. Immerhin war er dafür verantwortlich, den hochverehrten Bewohnerinnen der oberen Stadt ein wenig von jener Lust zu verschaffen, die ihnen offiziell ganz verboten ist und auf die dennoch so viele von ihnen – sagen wir ruhig, beinahe alle - nicht verzichten können und wollen, denn das Ideal völliger Entsagung von aller Sünde hat der Mensch eben nirgendwo verwirklicht - auch nicht in Marsopolis, dem bis heute fortschrittlichsten aller von Menschen bewohnten Ansiedlungen.
An diesem Tag, wo wir Ego zum ersten Mal begegnen, hatte ihn eine besonders unscheinbare Bewohnerin auf dem Gang zum ersten Obergeschoss angesprochen. Jede Frau weiß ja, welchen Diensten Ego in dieser Stadt obliegt. Nicht an seiner Kleidung erkennen sie es und schon gar nicht an einem äußerlich ungehörigen Betragen, nein, in dieser Hinsicht ist Ego ohne Fehl und Tadel. Sie erkennen es an dem etwas röteren, zweifellos der Schminke zu verdankenden Rot seiner Lippen.
Ja, und dann ist da noch die Frisur. Die Frauen in Marsopolis tragen sie zu kunstvollen Gebilden geschichtet, die sie mit Kämmen am Kopf fixieren, aber Ego und seinesgleichen, von denen es in der Oberstadt noch an die zweihundert gibt, lassen ihr Haar glatt auf die Schultern fallen – ihre geringe Stellung und Außenseitertum erkennt frau deshalb schon aus der Entfernung. Außerdem ist ihm ein Anflug von Dunkelheit zwischen Nase und Oberlippe geblieben, wofür er sich ganz besonders schämt. Trotz größter Bemühungen hat sich dieser Restbestand seiner ursprünglichen Natur nicht völlig beseitigen lassen. Jeden Morgen, wenn Ego sich im Spiegel erblickt und für den Tag herausputzt, blickt er mit tiefer Bekümmernis auf dieses unaustilgbare Brandmal einer geburtsbedingten Zweitrangigkeit.
Doch da er am heutigen Tag guter Dinge ist, wollen wir diesen Bericht nicht mit Jammerei beginnen, zumal wir uns auf dem Mars befinden, wo der Mensch seine erste, ganz und gar mangelhafte Natur überwand, um sich eine zweite und dritte Natur zu kreieren, mit anderen Worten sich selbst völlig neu zu erschaffen. Das ist freilich eine Geschichte, die ich erst nach und nach erzählen werde. Vorerst haben wir es nur mit Ego selbst zu tun, diesem missglückten Exemplar des neuen Menschen. Der Grund, warum wir uns aber gerade seiner Person zuwenden, ist nicht schwer zu verstehen: In Marsopolis wird etwas Unvorhergesehenes geschehen, etwas, das gar nicht geschehen dürfte – Ego aber wird als Held im Mittelpunkt dieses Geschehens stehen, obwohl er doch von Natur aus alles andere als ein Held ist und auch niemals danach strebte, einer zu sein.
Ein Mensch wie Ego – die Bezeichnung „ein Mann wie Ego“ sollten wir ihm ersparen, denn er wollte diesem Geschlecht ja niemals angehören – ein solcher Mensch geht ganz im Dienste am Nächsten auf: im wortwörtlichen Sinne ist er ja öffentlicher Besitz. Alle Frauen der Oberwelt haben ein Recht auf ihn. Auf einen Wink – einen ganz unauffälligen Wink, versteht sich, denn sündhaftes Treiben muss sich hier wie sonst auf der Welt sorgfältig verbergen – auf einen solchen Wink muss Ego jeder sofort zu Willen und Diensten sein, das gehört zu seinem Berufsethos, das ist es, was die Frauen von Marsopolis von ihm erwarten.
An diesem Tage begegnete Ego einer unscheinbaren Person namens Ella. Wie schon gesagt, liegt in einer solchen Begegnung nichts Außergewöhnliches, im Gegenteil, sie gehört zum Alltäglichsten in seinem Leben. Aus irgendeiner Wabe – so werden hier die eng aneinandergedrängten Wohnungen genannt – schaut ein weiblicher Kopf hervor, ein Arm reckt sich vor, tippt ihm auf die Schulter, und schon beginnt eine neue Arbeitsstunde. Das ist an und für sich völlig normal. Die Lust überkommt den Menschen ja meist ohne Vorbereitung, sie fällt sozusagen aus heiterem Himmel – für die fortschrittliche Frau auf dem Mars gilt das genauso wie für die Bewohner anderer Himmelskörper. Ella hatte sich ihm von hinten genähert, sie bemerkte sein glatt auf die Schultern herabfallendes Haar und vorsichtshalber warf sie auch noch einen Blick auf seine geschminkten Lippen. Eigentlich war sie ein schüchternes, zurückhaltendes Wesen, doch selbst diese Schüchternheit kam nicht gegen jene Urgewalt an, welche der Fachmann mit dem Wort „Libido” oder “Begehren bezeichnet. Schüchterne Naturen sind dieser Gewalt ebenso ausgeliefert wie schamlose Draufgänger(innen).
Ella tupfte Ego also nach der hier üblichen Art mit vorgestrecktem Zeigefinger auf die Schulter, woraufhin dieser ihr, ohne zu zögern, zu ihrer Wabe folgte.
Ein Schwarzhaarige aus dem Südbezirk, dachte sich Ego, deswegen tupft sie mir so behutsam auf die Schulter. Ganz anders als die Silberhaarigen aus dem Norden, das sind Draufgängerinnen, die keine Hemmungen kennen.
Die Wabe der Schüchternen unterschied sich allerdings in keiner Hinsicht von den vielen anderen, die Ego bis dahin besuchte. Da gibt es die große Truhe für die Toilette, in der sich die zwei Tageskleider befinden und – abgesondert in einem etwas größeren Wandschrank - das Festkleid für den Tag der Göttin Eana. Daneben befinden sich dann noch die Regale für die vielen bunten Pantoffeln, mit denen frau auf Marsopolis einen wirklichen Kult betreibt, und dann ist da natürlich noch das breite Lager, das in aller Regel groß genug ist, um wenigstens Platz für drei Personen zu bieten, denn ihre erotischen Bedürfnisse stillen die Frauen auf Marsopolis nicht selten mit zwei Freundinnen zugleich, wozu sie die besten Gründe haben, denn die ungerade Zahl, und vor allem die Drei, genießt auf dem Mars eine herausragende Bedeutung.
In der tiefen Ehrfurcht vor der heiligen Drei liegt ein zusätzlicher Grund, warum jede Frau, die sich nur zu zweit vergnügt, besondere Gewissensbisse verspürt. Diese werden zu purer Qual, wenn die zweite Person kein Vertreter des edlen Geschlechts ist, sondern wie Ego aus dem Restbestand früherer Zeiten stammt, also, wie man es hier abschätzig nennt, ein bloßes Männchen ist.
Ego weiß um den inneren Zwiespalt, in den sein Erscheinen und sein Beruf die Frauen auf dem Mars regelmäßig versetzt. Es betrübt ihn, wenn er erleben muss, wie diese zarten Wesen ganz entsetzlich mit sich kämpfen, während sie ihm auf die Schulter tupfen und sich von ihm zu ihrer Wabe folgen lassen. Einerseits quält es sie, dass sie gerade den Weg zur Sünde beschreiten, andererseits hält sie die innere Qual dennoch nicht von ihrem Vorhaben ab, denn der Mensch, und, ja, auch die Frau auf Marsopolis hat sich leider bis heute von der Sünde nicht losreißen können. Mögen Zwiespalt und innerer Kampf sie noch so sehr in Aufruhr versetzen: Kaum sind die Damen mit Ego allein, stürzen sie sich regelrecht auf und über ihn, denn alle vergehen vor Neugierde nach dem „Ding”.
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