1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Mrs. Shine schaute ihn mit warmer Geduld an. Jack fing an zu sprechen: „Hatten wir heute einen Termin, Mrs. Shine?“
„Ich habe Ihnen kurzfristig einen eingeräumt, Jack. Sie sind nicht programmiert, falls Sie das denken. Das sind bloße Hirngespinste der Unterhaltungsindustrie. Man kann Menschen nicht dazu zwingen, zu einer vorherbestimmten Zeit eine bestimmte Sache zu machen. Zum Beispiel nach gut sechs Jahren hier mal wieder hereinzuschneien. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“
Jack war irritiert. War das eine Bestätigung, dass seine so lange verschütteten Erinnerungen echt waren? „Ich war also vor sechs Jahren hier? Ich habe auf Ihr Sofa gekotzt?“
Mrs. Shine lächelte leicht und schaute ihn interessiert an: „Ja, Sie haben sich damals erbrochen. Sie haben lange nicht daran gedacht, nicht wahr, Jack?“
„Es ist mir erst vor ein paar Minuten wieder eingefallen.“ Jack war zerstreut. Ihm war nicht klar, was er von Susan Shine eigentlich wollte. Sie war ein Rädchen im Getriebe. Genau wie er selbst. Vielleicht ein wesentlich größeres Rädchen. Aber sie war deshalb nicht verantwortlich dafür, dass Jacks Leben eine Hölle der Fühllosigkeit war. Vermutlich war das niemand. Oder alle. Das gesamte System, in dem jeder bloß ein Rädchen war. Er war kurz davor, sich wieder umzudrehen und zum Fahrstuhl zu gehen. Mrs. Shine hatte ihn beobachtet und ergriff nun das Wort: „Sie hatten damals einen schlimmen Anfall. Sie waren fast drei Wochen nicht auf Ihrem Arbeitsplatz. Ist Ihnen das entfallen?“
„Ja, es war mir entfallen.“ Jack spürte, dass sie ihm etwas erzählen wollte. Vielleicht machte es doch irgendeinen Sinn, mit ihr zu sprechen. „Bis vor vielleicht einer Stunde war ich eine gefühllose Hülle auf Autopilot. Ich weiß nicht, wie ich es hinbekommen habe, die Dinge zu tun, die ich Tag für Tag getan habe. Gefühlt habe ich sie jedenfalls nicht. Und Erinnerungen spielten in all den Jahren keine Rolle. Meine Kollegen haben mich nie darauf angesprochen. Und in den Datensätzen ist mir nicht aufgefallen, dass meine Arbeit für einige Zeit von jemand anderem erledigt worden sein muss. Meine Frau hat mich einmal auf eine Kur angesprochen, aber ich wusste nicht, was sie meinte und es war mir auch ganz egal.“
Eine Nuance Mitleid lag in Mrs. Shines Blick: „Ich verstehe. Setzen Sie sich bitte, Jack. Ich werde Ihnen erzählen, was ich weiß.“ Jack setzte sich ihr gegenüber. Ihr antiker Schreibtisch lag wuchtig zwischen den beiden Menschen. Jack konnte Burls Augen und die auf ihn gerichtete Waffenmündung in seinem Rücken spüren.
„Sie haben damals ein einmaliges Angebot erhalten. Aber Sie waren nicht reif dafür. Erinnern Sie sich daran?“
Jack antwortete zerstreut: „Ich glaube schon, ja. Ich sollte ein Hirte werden. Dieser Engel hatte das gesagt, Quin war sein Name.“
Mrs. Shine lachte kurz herzlich auf. Sie schien ohnehin in einer heiteren Verfassung zu sein „Quin ist kein Engel. Aber Sie sind nicht der erste, der ihn so nennt. Er hat wirklich eine entzückende Aura. Ich habe ihn allerdings seitdem nur wenige Male gesehen und nur ein paar Worte mit ihm gewechselt. Ich vermisse ihn ein wenig. Einer der wenigen Menschen, in dessen Nähe man sich irgendwie in jeder Lebenslage wohlfühlt. Wir haben uns als Kinder kennengelernt. Er war damals schon so, wissen Sie. Sie erinnern sich also an Quin und das Angebot. Sie erinnern sich an Ihr Erbrechen. Erinnern Sie sich auch daran, warum wir Sie in mein Büro eingeladen hatten?“
Jack hätte sich am liebsten wieder erbrochen. „Meine Recherchen. Ich war darauf gestoßen, dass es keinen freien Milchmarkt gibt. Wahrscheinlich überhaupt keine freien Märkte.“
Mrs. Shine wurde etwas ernster. „Das heißt, Sie erinnern sich an alles Wesentliche. Das ist Ihnen alles eben gerade erst wieder eingefallen?“
Jack bekam Kopfschmerzen. Er hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Es war so viel auf ihn eingestürzt. Er versuchte sich zu besinnen: „Ähm, ja … es fing auf dem Highway an, vorhin, auf dem Weg hierher.“
Mrs. Shine wies mit Ihrer Hand auf den Monitor, der über ihrem Schreibtisch angebracht war: „Wir haben Zugriff auf die Daten Ihrer Hausärztin. Wie ich sehe, nehmen Sie seit fünf Tagen ein neues Medikament. Es ist im System als risikoreich indiziert. Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht wirklich aus. Es gab offenbar einige sonderbare Nebenwirkungen. Keine Ahnung, warum es überhaupt für den Masseneinsatz zugelassen wurde. Vermutlich ein Großexperiment. Und vermutlich der Grund, warum Sie sich wieder erinnern. Fühlen Sie etwas? Ich meine: Was ist mit den Symptomen Ihrer Depression?“
Jack schaute sie entnervt an: „Ich habe das Gefühl, als würden die unterdrückten Gefühle der letzten sechs Jahre alle auf einmal auf mich einstürzen. Es ist furchtbar … und es ist schön, endlich wieder etwas zu fühlen. Ähm, können Sie mir Einzelheiten zu den sonderbaren Nebenwirkungen sagen?“ Jack versuchte, den Hals so zu recken, dass er ihren Monitor betrachten konnte.
Mrs. Shine sorgte mit einem Knopfdruck dafür, dass der Monitor schwarz wurde. „Nein, darauf habe ich keinen Zugriff. Ich könnte damit auch nicht viel anfangen. Ich werde Ihnen erzählen, was es mit Ihrer Kur auf sich hatte, wenn Sie wollen. Ich fühle mich Ihnen gegenüber ein wenig in der Verantwortung, Jack. Bei unserer letzten Begegnung war ich in einer zynischen Verfassung, die mir heute unangenehm ist. Vielleicht kann ich wenigstens etwas wieder dadurch gut machen, dass ich Sie ein wenig aufkläre.“ Sie lächelte ihn einnehmend an.
Jack fragte sich unterdessen ernsthaft, warum sie so heiter war. „Erzählen Sie. Und fangen Sie bitte damit an, mir zu erklären, warum Sie so unausstehlich gut gelaunt sind.“
Mrs. Shine wurde wieder ernster: „Unausstehlich? Unter anderen Umständen würde mir diese unhöfliche Formulierung von Ihnen reichen, Sie aus der Firma zu werfen. Aber ich kann verstehen, warum Sie aufgebracht sind. Ich kann Ihnen unmöglich erklären, warum ich gerade guter Dinge bin. Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Machen Sie sich nichts vor, Jack: Sie spielen keine besondere Rolle in meinem Leben. Aber vielleicht ist es auch kein Zufall, sondern so etwas wie göttliche Fügung, dass Sie sich gerade heute erinnern. An den meisten anderen Tagen hätte ich dem Sicherheitsdienst nicht gestattet, dass ich von Ihnen belästigt werde, Jack. Heute jedoch bin ich dafür dankbar, dass ich die Chance habe, Ihrem kleinen Leben ein kleines Licht aufzusetzen. Zumal ich Ihnen ohnehin etwas schulde: Sie können sich nicht vorstellen, wie teuer eine Sofa-Garnitur von McLarren selbst aus meiner Gehaltsperspektive ist.“ Sie wies stolz grinsend mit der Hand auf die ersetzten Sitzmöbel. Auch wenn Jack nicht mehr alles ganz egal war, Sofas waren ihm noch immer schnuppe. Er guckte nicht einmal hin. Shine war über diese Ignoranz etwas gekränkt und sprach daher mit ihm wieder wie zu einem unartigen Kind: „Also hören Sie zu: Sie wurden damals aus meinem Büro direkt in das Institut von Professor Bell gebracht. Sie haben sicherlich von dem Institut gehört, oder?“
„Ja, sicher. So stumpf kann man gar nicht sein, dass man nicht mitbekommt, wer Bell ist.“
„Erinnern Sie sich daran, ihm begegnet zu sein? Erinnern Sie sich an das Institut?“
„Nein.“
„Das sind Sie aber ganz sicher. Ich weiß nicht, was die im Institut mit Ihnen angestellt haben. Uns wurde nur mitgeteilt, dass das Institut keinen Weg wusste, Sie zu einem Hirten zu machen, um in Quins Bild zu bleiben. Aber als Schaf sollten Sie keine Probleme mehr machen. Man hat in Ihre Gedächtnisstrukturen eingegriffen. Wir haben Sie auf Ihren alten Arbeitsplatz gesetzt und akzeptiert, dass Sie wie die meisten Leute, die für uns arbeiten, gefühllos wie ein Brett waren. Einer von vielen gefügigen Arbeitssklaven. Ich habe Sie vor einigen Monaten mal zufällig in Kantine 9 gesehen. Sie sahen wirklich stumpf aus. Jetzt hingegen ist da wieder ein Funkeln in Ihren Augen. Das ist doch schön. Wobei mir einfällt: Haben Sie zufällig mal die ganz alten Zombiefilme aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen gesehen? Je länger ich hier arbeite, desto mehr von diesen Zombies laufen hier herum. Ich hoffe nur, dass sich diese Zombies nicht in ihre fleischfressenden Verwandten verwandeln.“
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