1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 „Mike, sorgen Sie dafür, dass Dr. Jones, Dr. Smith und Dr. Kirk nach meinem Vortrag in meinem Büro auf mich warten, bitte. Erzählen Sie mir das Wesentliche über die neuen Studenten.“
Mike Hagen war Professor Bells persönlicher Assistent. Er war ein Organisationstalent und hatte in den vergangenen elf Jahren bei Bell gelernt, dessen Wünsche zu kennen, bevor er sie äußerte. Jetzt war er verwundert: „Sehr wohl, Professor Bell. Ihnen ist bewusst, dass heute Montag ist. Ihre Sitzungen mit den drei Doktores finden für gewöhnlich mittwochs statt. Ist etwas Außergewöhnliches passiert, von dem ich wissen sollte?“
„Sicher ist etwas Außergewöhnliches passiert, Mike, sonst würde ich Sie nicht darum bitten. Ich werde entscheiden, wann Sie davon erfahren. Bitte kümmern Sie sich einfach darum, dass die drei nachher in meinem Büro warten.“ Professor Bell konnte sich noch immer darüber wundern, mit welcher gleichförmigen Aufmerksamkeit Mike seinen Job ausführte, obwohl er in seinem Herzen offenbar völlig desinteressiert an den Geschehnissen im Institut war. Die regelmäßigen Gesundheits-Screenings hatten bei Mike stets nur wenige sehr leichte Formen depressiver Verstimmung ergeben, die nicht im eigentlichen Sinne therapierenswert erschienen. Gemessen am gesellschaftlichen Durchschnitt war er von bestechender Gesundheit. Die Sicherheitsabteilungen des Instituts hatten selbstverständlich einen besonderen Blick auf Mike, schließlich war er die rechte Hand des Chefs und einer der wenigen Angestellten, die auf dem Institutsgelände nur arbeiteten, nicht aber dort lebten. Daher wusste Bell viele Details aus dem Privatleben seines engsten Mitarbeiters. Er war stabiler Bestandteil eines vergleichsweise großen Freundeskreises, in dem er auch recht unverbindlich einige sexuelle Beziehungen unterhielt. Er spielte gerne Gesellschaftsspiele und hörte gerne alle möglichen Formen von Musik. Er hatte ein entspanntes, nicht-exzessives Verhältnis zu Rauschdrogen, war fast ausnahmslos ausgeglichen und freundlich zu Nachbarn und anderen Mitmenschen. Er hatte keine Feinde und anscheinend gab es nur sehr selten überhaupt Situationen in seinem Leben, wo er jemand anderem Missfallen bereitete. Allgemein wurde er als charmant und aufmerksam wahrgenommen. So nahm ihn auch Bell wahr. Und dennoch konnte Bell nicht aufhören, sich über Mikes aufmerksame Gelassenheit zu wundern. Vermutlich ärgerte ihn einfach, dass Mike keinerlei Ehrgeiz zeigte. Er war mit seinem Leben zufrieden und sehnte sich nicht nach irgendeiner Veränderung. Wahrscheinlich war er deshalb ein so verlässlicher und aufmerksamer Assistent. Und konnte man ihm böse sein, dass er nicht noch mehr in seinem Leben erreichen wollte als persönlicher Assistent von einem der wichtigsten Forscher und reichsten Menschen der Welt zu sein?
„Ich werde mich darum kümmern. Die diesjährigen Erstsemester sind 347 Personen, 202 davon weiblich. Sieben Personen hängen noch am Flughafen fest, die üblichen Einreiseschwierigkeiten. Die Sicherheitsbeamten am Airport erwarten wohl eine Tarifanpassung ihres Schmiergeldes. Ein Team um Curtis ist bereits dort, aber die sieben Studenten werden Ihre Eröffnungsrede wohl komplett verpassen. Vier Personen sind anscheinend abgesprungen, ihr Verbleib ist jedenfalls ungewiss. Die restlichen 336 Personen warten bereits in Vorlesungssaal 11, 197 davon weiblich. Die Altersverteilung liegt zwischen 11 und 26 und kommt an eine Gaus'sche Normalverteilung ziemlich dicht dran.“
Eine größere Untergruppe der Flamingos wurde durch irgendetwas aufgeschreckt und flog von ihnen fort zur anderen Seite des seichten Gewässers. Bell wollte Einzelheiten zum Potential des neuen Humankapitals haben: „336 bei einer Sollkapazität von 500. Dies ist das dritte Jahr, dass wir unsere Hallen nicht mehr voll bekommen, nicht wahr? Wie sind die Ergebnisse der IQ- und der Aufnahme-Tests?“
Mike hatte die relevanten Informationen wie immer im Kopf: „Ja, das dritte Jahr. Die depressiven Erkrankungen unter Jugendlichen haben zu stark zugenommen, der Personenkreis für die Rekrutierung wird trotz global steigender Geburtenzahlen immer kleiner. Curtis erklärte mir gestern, dass die Konkurrenz bei der Rekrutierung Hochbegabter deshalb wohl auch stark zugenommen habe. Insbesondere chinesische und indische Institute würden uns das Wasser abgraben.“
Bell ärgerte sich erneut darüber, dass die großen Teile Asiens, die de fakto unter indischer und chinesischer Kontrolle standen, vor einigen Jahren Gesetze erlassen hatten, die es nur noch Erwachsenen erlaubte, nicht-asiatische Bildungseinrichtungen aufzusuchen. Ein großes Potential an Menschen ging dem Institut dadurch verloren. Ausnahmen von diesen Gesetzen gab es nur für die Sprösslinge der politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die zogen in der Regel aber ein Jura- oder Wirtschafts-Studium vor und hatten ohnehin nur sehr selten einen ausreichenden IQ. Bell hatte keine Hoffnung mehr, gegen den Protektionismus Asiens etwas ausrichten zu können. Sowohl sein Geld als auch sein politischer Einfluss hatten in den letzten Jahrzehnten nichts Reelles bewirken können. Und er wusste, dass sich noch ganz andere Zähne an diesem Problem Parodontose zuzogen.
Mike fuhr fort mit basalen Informationen über die neuen Studenten: „37 Personen hätten nach den alten Standards ausgemustert werden müssen. 24 von ihnen haben nur IQ-Werte zwischen 133 und 149 erreicht, 21 die erforderliche Punktzahl der Aufnahme-Tests um bis zu 12 Prozentpunkte verfehlt, acht Personen haben folglich beide Hürden gerissen. Eine Auflistung dieser 37 Probekandidaten finden Sie selbstverständlich im Vorlesungspad. 87 Personen haben die 200er-Grenze der IQ-Tests gesprengt und auch ähnlich überdurchschnittlich bei den Aufnahme-Tests abgeschnitten. Besonders interessieren dürften Sie die Wunderkinder: Pablo Perado ist der Jüngste, 11 Jahre alt, stammt aus einer brasilianischen Kleinstadt, hat die 200er-Grenze gesprengt und 96,3 % in den Aufnahme-Tests erreicht. Oh, schauen Sie! Was für Farben!“
Sie gingen nun durch einen kleinen tropischen Urwald, saftiges Grün umgab sie zu allen Seiten des Weges, Insekten und Schmetterlinge umschwirrten sie. Bell war wie immer darüber verwundert, dass Mike sich jedes Mal aufs Neue über die bunten Flatterlinge freuen konnte. Doch etwas in Bell freute sich einfach mit Mike mit. Bell wollte nicht darüber nachdenken, ob Mikes Freude auf ihn übergesprungen war. Aber insgeheim wusste er, dass die Fähigkeit seines Assistenten, sich an den kleinen Dinge des Lebens stets aufs Neue erfreuen zu können, der Hauptgrund war, warum er ihn nicht durch eine hübsche junge Assistentin ersetzte. Noch ein paar Minuten Wegzeit zu den Vorlesungsgebäuden, Bell wurde ungeduldig: „Wer noch?“
Mike konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit, die Versorgung seines Chefs mit Informationen: „Li Li ist 12, über der 200 und bei 94,8 %. Angeblich kommt sie aus Hongkong, aber die Sicherheitsabteilung vermutet, dass die Zugehörigkeit zur Sonderwirtschaftszone gefaked ist. Was soll's, die chinesischen Behörden erheben keinen Anspruch auf sie. Und eine 12-Jährige wird kaum ausgebildete Spionin sein.“
„Das kann man nicht wissen, Mike. Clever genug ist sie offenbar. Aber wir veröffentlichen doch ohnehin die meisten unserer Ergebnisse. Solange China sich mehr oder weniger an die internationalen Vereinbarungen über Patente hält, gibt’s keinen Grund, sich darüber Sorgen zu machen. Die Spanner in der Sicherheitsabteilung werden sie sicherlich bis in die Dusche hinein überwachen. Weiter.“ Bell war sich seines Zynismus bewusst und er konnte ihn rechtfertigen mit seiner herausragenden Intelligenz und den pragmatischen Anforderungen an jemanden, der eine so große Bedeutung für das Leben so vieler Menschen hatte. Doch auch jetzt gab ihm sein Zynismus wieder einen kleinen Stich. Nicht die schlechtesten Theorien seines Fachgebiets behaupteten einen Zusammenhang zwischen Zynismus und dem elenden Zustand, in dem sich die Welt befand. Was trug er an persönlicher Mitverantwortung?
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