Mike fuhr fort: „Penny McAlister, 12, über der 200 und bei immerhin 87,6 %, kommt aus New York City. Ebenfalls 12 ist Alexandro Bolles aus Mexiko City, IQ 199, 95,2 %. Dann vier 13-Jährige: Melanie Winter aus einer deutschen Kleinstadt in der Nähe von Hamburg, IQ über 200, 85,4 % in den Tests; Lulu Camarez aus einem Kaff in Uruguay, IQ über 200, 99,3 % in den Tests; Bogato Bolomota, ein Junge aus dem mittelafrikanischen Protektorat mit offenbar sehr bewegter Geschichte, IQ über 200, 67,6 % in den Tests, offenbar wegen der Sprachbarrieren nur so wenig; und die Spitzenreiterin der Eingangstests heißt Qua Buratila Magahenga, ihre Bewerbung stammt aus Mumbai, aber die Sicherheitsabteilung konnte nicht klären, woher sie ursprünglich kommt, IQ über 200, volle 100 % im Test.“
„Volle Punktzahl? Wie lange hatten wir das nicht mehr, Mike? Fünf Jahre?“
„Vor sieben Jahren das letzte Mal, Sir, als der junge Dr. Smith vom MIT zu uns rüberwechselte.“ Mike schaute Bell vielversprechend an, der aber guckte sich die geschwungene Architektur der vor ihnen liegenden Vorlesungsgebäude an. Wie eine Arche Noah im Paradies vor allen Sündenfällen und vor der Sintflut lagen die mit Tropenhölzern verkleideten Gebäude vor ihnen, umgeben von Blumenwiesen mit summenden Bienen und zwitschernden Vögeln, Wäldern, einem künstlich angelegten Flüsschen. Am liebsten hätte Bell von jeder Tiergattung, die die letzten Jahrhunderte der menschlichen Herrschaft über den Globus überlebt hatte, ein Paar in den Park geholt, aber die Sicherheitsabteilungen hatten zu viele Bedenken gegen seinen Einfall vorgebracht.
Sie erreichten den Eingangsbereich der Arche. „Wir sind gleich da, Mike. Noch irgendetwas Wichtiges?“
„Nächste Woche findet die jährliche Sitzung der Kommission zur Festlegung der Zugangsvoraussetzungen statt. Die Professoren Hill und Chang insistieren dieses Jahr erneut darauf, auch Kandidaten zu berücksichtigen, die hohe Werte in Tests zur Messung der emotionalen Intelligenz erreichen. Die Sollzahl von 500 könnte so wieder erreicht werden.“ Mike trug bloße Fakten vor. Vermutlich ahnte er nicht einmal, welche weitreichenden theoretischen Streitigkeiten den jährlichen Auseinandersetzungen in der Kommission zugrunde lagen. Bell reagierte unwirsch: „Damit kann ich mich nächste Woche befassen. Was nutzen uns intuitive Studenten, die keinen Zugang zur komplexen Mathematik unseres Fachs finden? Danke, dass Sie mich aufgeklärt haben, Mike. Bitte denken Sie daran, was ich Ihnen vorhin aufgetragen habe.“
„Sehr wohl. Bis später.“ Mike wandte sich um und fing an, eine Melodie zu pfeifen. Er liebte die Spaziergänge durch den Park.
Professor Bell betrat Vorlesungssaal 11. Die Unruhe im Saal verebbte auf der Stelle. Er genoss eine weltweite Autorität, die ihm niemals so klar wurde wie in diesen Momenten, wo er das erste Mal in einen Saal mit neuen Studenten kam. Überall im Raum folgten konzentrierte Blicke jeder seiner Bewegungen.
„Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie am Bell-Institut für medizinische Quantenphysik.“, sagte er noch während er auf das Podium stieg. „Mein Name ist Bell und ich bin der alleinige Eigentümer dieses Instituts. Wie Sie wissen, gehören Sie zur Crème de la Crème der Menschheit, weil Sie es geschafft haben, unsere strengen Eingangsvoraussetzungen zu überwinden. Das heißt, 37 Personen unter Ihnen haben dies leider nicht geschafft und werden in den kommenden Monaten einem Sonderprogramm unterworfen. Betrachten Sie das als Probezeit. Der Rest von Ihnen kann sich darauf verlassen, dass mein Institut Ihnen alle Wünsche erfüllen wird. Jede und jeder von Ihnen bekommt drei Mentoren zugeteilt. Sollten Sie irgendwelche Probleme oder Wünsche haben, scheuen Sie sich bitte auf keinen Fall, mit Ihren Mentoren darüber ins Gespräch zu kommen. Die Instituts-Philosophie betrachtet Sie als eine Investition in die Zukunft der Menschheit. Ich möchte, dass Sie das sehr ernst nehmen: Sie, das heißt insbesondere Ihre geistige Leistungsfähigkeit, sind wertvoller als alles, was Sie vielleicht in ihrem bisherigen Leben als wertvoll betrachtet haben. Ich garantiere Ihnen: Das Institut wird alles daran setzen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen. Betrachten Sie sich ab jetzt bitte mit dem Selbstbewusstsein junger Götter, denen kein Wunsch verwehrt werden darf. Betrachten Sie mich als den alten Gott, dessen Zorn furchtbare Verwüstungen anrichten wird, wenn seinen jungen Göttern irgendeine Respektlosigkeit erwiesen wird.“
Die meisten jungen Gesichter ihm gegenüber waren konzentriert, einige wenige deuteten mit verständnislosen Blicken ihre mangelnden Sprachfähigkeiten an, aber viele freuten sich über Bells Worte, grinsten, einige lachten sogar. Allen Menschen schmeichelte der Gedanke, ganz besonders zu sein. Aber niemand konnte mit so naiver Freude auf die Anerkennung der eigenen Bedeutsamkeit reagieren wie junge Menschen. Bell wusste, wie er die Neuen einzuwickeln hatte.
„Falls Sie in irgendeinem lebenspraktischen Belang nicht weiter wissen und auch ihre Mentoren Ihnen nicht helfen können oder wollen, so vereinbaren Sie bitte einen Termin mit mir. Ich verspreche Ihnen, dass Sie sich in diesem Institut keine Sorgen über irgendetwas jenseits unseres Faches machen müssen. Herzlich Willkommen!“
Die jungen Leute applaudierten. Noch freuten sie sich. Ja, die meisten von ihnen würden ein Luxusleben kennenlernen, das sie vorher nicht erahnt hatten. Aber sie würden noch früh genug zu stöhnen beginnen über all die Zumutungen der probabilistischen Theoriekonstrukte, mit denen sie sich herumschlagen würden.
„Sie werden morgen eine Führung über das Gelände bekommen. Es gibt fünf Kantinen, die rund um die Uhr geöffnet sind. Sie können auch einen Bring-Service in Anspruch nehmen. Es gibt ein großes Angebot an sportlichen Betätigungsfeldern auf dem Gelände. Der Wellness-Bereich steht Ihnen ebenfalls rund um die Uhr zur Verfügung. Falls Sie eine Massage wünschen, werden Sie sie dort am schnellsten erhalten. Aber auch Masseure können Sie zu jedem beliebigen Institutsort ordern. Jedem von Ihnen wird ein persönlicher Assistent an die Seite gestellt, der in erster Linie für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse sorgen soll, Besorgungen erledigen, Wäsche waschen und so weiter. Die persönlichen Assistenten werden Ihnen gerade in der Anfangszeit auch hilfreiche Tipps geben, wie Sie sich im Institut zurecht finden können. Zudem sind die persönlichen Assistenten dazu angehalten, Sie bei der Organisation Ihrer Lernmaterialien zu unterstützen. Sie können viele hilfreiche Hinweise von Ihren Assistenten dazu erwarten, wie Sie sich in der Flut von Informationen, die auf Sie einstürzen wird, über Wasser halten können. Ihr persönlicher Assistent wird das selbe Geschlecht wie Sie haben und nach Möglichkeit auch ähnliche ethnische sowie regionale Wurzeln. Ich weiß, dass sich viele von Ihnen noch mit den Plagen der Pubertät herumschlagen müssen, wozu häufig auch eine übertriebene Scham gehört. Ich rate Ihnen, zu Ihrem persönlichen Assistenten ein absolutes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Sollte die Chemie zwischen Ihnen und ihrem Assistenten nicht stimmen, können Sie selbstverständlich einen neuen Assistenten beantragen. Wie gesagt: Sollten Sie spüren, dass irgendwas Sie vom Lernen abhält, weil es Sie ärgert oder nervt, ganz gleich, was es ist, dann sprechen Sie das Ihrem Assistenten, Ihren Mentoren oder mir gegenüber aus. Sie sollen und müssen sich in diesem Institut wohlfühlen. Denn Sie werden all Ihre Energien benötigen, um sich in das einzuarbeiten, was die Menschheit heute über die Wellenfunktion des Universums weiß. Das Institut unterhält auch einen großen Pool von Personen, auch solchen in Ihrem Alter, die Ihnen für die Erfüllung Ihrer erotischen Sehnsüchte jederzeit zur Verfügung stehen.“
Wie jedes Jahr ging an dieser Stelle ein Raunen durch den Raum. Etliche Gesichter liefen puterrot an. Pubertierenden unbegrenzte Möglichkeiten sexueller Entfaltung zu offerieren, setzte enorme emotionale Schwingungen in Gang. In früheren Jahren hatte das Institut insgeheim ein gutes Dutzend Screening-Vorrichtungen unter dem Vorlesesaal eingesetzt, um diese Schwingungen zu messen. Das Datenmaterial von drei Jahren war ausreichend, um einige hundert Wissenschaftler ein paar Jahrhunderte zu beschäftigen. Vor einigen Jahren hatte das Screening ohne explizites Einverständnis der Studierenden allerdings zu einer Skandalisierung geführt, so dass man davon abgesehen hatte, in jedem Jahr erneut Daten zu sammeln.
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