Der Aufzug erreichte Etage 53. Wieder Shines Stimme in seinem Kopf: „Beruhigen Sie sich, Jack. Sie müssen nicht besorgt sein. Sie haben nichts Falsches gemacht. Wir haben es zugelassen und Ihre Aktivitäten beobachtet. Sie sind ein ausgesprochen guter Mitarbeiter, gucken über den Tellerrand, haben der Firma hier und da ein bisschen Geld gespart, weil Sie mehr gesehen haben als unbedingt nötig gewesen wäre. Wie gesagt: Wir sind beeindruckt, Jack.“ Dann Quins wohltuende Stimme: „Vermutlich haben Sie keine Vorstellung davon, wie ausgereift die Sicherheitstechnologien heute sind, Jack. Sie werden uns verzeihen müssen, dass wir auch Ihr Privatleben überwacht haben. Nun ja, wir waren neugierig. Es kommt nicht so häufig vor, dass jemand so hartnäckig ist wie Sie. Sie sind ganz offensichtlich ein kluger und engagierter Mann. Wir wissen, was Sie vor einem Monat Ihrer Frau als Ergebnis Ihrer Recherchen berichtet haben. Sie haben das ganze Rätsel gelöst. Wirklich beeindruckend für jemanden in Ihrer Position.“ Quins Lächeln hatte beruhigend und ermutigend gewirkt. Echte Anerkennung schien aus seinem engelhaften Wesen zu strahlen.
Etage 55, Jack hatte einen Würgereiz, den er nur mühsam unterdrücken konnte. Er spürte einen Teil der Morgenpampe auf dem hinteren Teil seiner Zunge. Der Autopilot hatte das alles vergessen und ignoriert. So betäubt und benommen er damals gewesen war, so sehr ihm schon alles gleichgültig gewesen war, seine Anwesenheit im 169. Stock hatte ihm wieder ein vages Gefühl gegeben. Ein Gefühl von verletzter Würde: Sie überwachten sein Privatleben! Er hatte sich damals vorgenommen, die Überwachungsinstrumente zu finden und zu vernichten. Doch irgendwas musste nach dem Gespräch passiert sein, irgendetwas hatte ihn in eine noch tiefere Apathie gestoßen. An die Wochen und Monate nach der Unterhaltung bei Mrs. Shine hatte er überhaupt keine Erinnerung. Und sechs Jahre waren vergangen, ohne dass er jemals wieder daran gedacht hatte. Immer nur der Autopilot und die gleichmäßige Gleichgültigkeit allem gegenüber. Wieder Shines Stimme im Kopf: „Haben Sie darüber nachgedacht, mit dem Ergebnis Ihrer Recherchen an die Öffentlichkeit zu gehen, Jack? Seien Sie unbesorgt, antworten Sie bitte ehrlich. Es macht keinen Unterschied. Die Firma hat zu viel Einfluss auf die Organe der öffentlichen Meinung und auf die Politik. Wenn Sie an die Öffentlichkeit gehen, dann werden Sie feststellen, dass Sie nur einer von vielen absonderlichen Verschwörungstheoretikern sein werden. Außer einigen Freaks wird Sie niemand ernst nehmen. Die Firma hat viel Erfahrung in diesem Bereich. Es sind schon hunderte von Menschen mit Informationen an die Öffentlichkeit gegangen, die die Firma nicht in der Öffentlichkeit sehen wollte.“ Quins korrigierende Stimme: „Hunderttausende mit den Jahrzehnten, Susan. Die Firma weiß in der Tat, wie sie solche Dinge ins Lot bringen kann. Deswegen konnten wir Ihnen auch freie Hand bei Ihren Recherchen lassen, Jack. Wir sind wirklich neugierig: Gab es Momente, in denen Sie die Firma bloßstellen wollten? Vertrauen Sie uns. Es macht tatsächlich keinen Unterschied. Aber es hat einen gewissen, nun ja, intellektuellen Reiz, diese Frage beantwortet zu wissen. Sagen Sie es uns bitte, Jack.“ Quins Stimme war so wohltuend gewesen, so vertrauenerweckend. Jack hatte sich geradezu darüber gefreut, beichten zu können. Er konnte den Menschen, die offensichtlich über sein Leben und das von Milliarden anderer Menschen bestimmten, sagen, was er für Sünden wider ihre Macht begangen hatte. Oder zumindest, was für Sünden wider ihre Macht er gerne begangen hätte. Seine eigene Stimme hallte aus der Vergangenheit in die Gegenwart seines Kopfes: „Ja, ich habe darüber nachgedacht. Sehr lange. Viele Nächte. Aber ich kenne mich nicht mit der Presse aus. Ich wusste nicht, an wen ich mich hätte wenden können. Ich hatte Angst. Ich habe eine Frau und Kinder. Und nicht einmal meine Frau interessierte sich für die Wahrheit. Wer hätte sich sonst dafür interessieren sollen? Wer hätte mir geglaubt? Ich bin nur, ich … ich bin nur so wahnsinnig enttäuscht. Und ich fühle mich so müde.“ Quins Stimme: „Was enttäuscht Sie so sehr, Jack? Sie leben doch ein gutes Leben, oder? Ich meine: Bis vor einem Monat haben Sie ein gutes Leben gelebt, nicht wahr? Sie haben ein Haus, eine schöne Frau, zwei Kinder, einen guten Job. Sie leisten gute Arbeit. Und Sie sind so klug, dass Sie Zusammenhänge begriffen haben, ja, sogar bewiesen haben, die kaum ein Mensch wissen möchte. Wir sind wirklich von Ihnen beeindruckt, Jack. Ehrlich gesagt denken wir darüber nach, Ihnen eine kleine Karriere anzubieten. Mehr Gehalt, mehr Verantwortung, eine Aufgabe, die Ihrem Wissen über die Wahrheit entspricht, eine Aufgabe hinter den Fassaden der Macht. Könnte Sie das nicht über Ihre Enttäuschung hinwegtrösten?“
Der Fahrstuhl kletterte über den 60. Stock hinweg, nur noch gut zwanzig Personen waren anwesend. Der Leerraum zwischen Jack und den anderen Menschen schien sich zu einem dicken Brei zu verklumpen. Zäh und undurchdringlich, Luft, die hart wie Stahl war und vibrierend wie Wackelpudding. Die Bewegung des Fahrstuhls schien für Jack nicht in die Höhe zu gehen, sondern in einer Schraubenbewegung direkt ins Erdinnere. Er hatte das Gefühl, als würde sich sein ganzer Körper durch die Zentrifugalkraft der schraubenden Bewegung an der Oberfläche direkt unter der Haut zusammendrücken. So mussten sich Schaben fühlen: Das Skelett nicht im Inneren, sondern außerhalb des Körpers. Seine Augen schienen platzen zu wollen. Ihm schwindelte, aber der Autopilot in seinem Kopf tat gleichzeitig so, als wäre nichts Außergewöhnliches. Jack blieb einfach wie ein zivilisierter Fahrstuhlfahrer an seiner Position stehen, wie jemand, der am frühen Morgen auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz war. Was hatte er damals auf Quins Frage geantwortet? Er fieberte, Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er sah sich selbst und die anderen vier Personen in der 169. Etage aus der Perspektive einer Fliege an der Decke. Über Kopf und in unzähligen Facetten. Er sah seine Gleichgültigkeit, die Trägheit seiner Gedanken, seine Stumpfheit. Die vier anderen Personen waren wie reines Licht der Heiterkeit gemessen an seiner kümmerlichen Betäubtheit. Er sah sich selber brabbeln: „Alles Lüge. Ist alles nicht wahr. Freier Markt. Unfug. Bloße Verwaltung. Ein paar Menschen halten alle Zügel. Sinnlos. Gefühllos. Wozu? Was soll ich hier noch? Trost? Hinter den Fassaden der Macht? Karriere? Ich weiß nicht. Was? Was soll das alles bedeuten?“ Plötzlich sah er wieder aus seinen vergangenen Augen, hörte wieder Quins Stimme: „Beruhigen Sie sich, Jack. Wir wissen, dass das ein schwerer Schock für sie war. Der Schock hat sie depressiv gemacht. Sie bekommen Medikamente, an die sie sich erst noch länger gewöhnen müssen. Sie sind nicht daran gewöhnt, mit Leuten wie uns zu sprechen. Sie waren noch nie in diesem Büro. Sie haben das Gefühl, den Boden zu verlieren. Das kommt vor. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Shines Stimme: „Mr. Quin, Sie haben selbst gesagt, dass wir ihm nur dann eine Karriere anbieten können, wenn er wieder zu sich kommt. Die Medikamente werden ihn nicht dazu befähigen, sich in neue Aufgabengebiete einzuarbeiten. Macht dieses Treffen unter diesen Umständen irgendeinen Sinn?“ Quins Stimme: „Susan, seien Sie bitte nicht so negativ. Nehmen Sie ein wenig Rücksicht. Jack hat uns beeindruckt. Wenn er sich jetzt dazu durchringen kann, die Unwahrheit seines alten Lebens zu akzeptieren, so werden wir ihn auch von der Depression heilen können. Ich habe die Erlaubnis, ihn für zwei Wochen auf eine Kur nach Qualimba mitzunehmen. So etwas wirkt Wunder, das wissen Sie. Er ist noch nicht lange depressiv. Und es gab einen sehr präzisen Auslöser, einen Schock. Wenn er den verdauen kann, gibt es gute Aussicht, dass er wieder gesundet. Er könnte gute Arbeit für uns leisten. Die besten Mitarbeiter der Firma sind durch diesen Schock gegangen. Sie und ich, Susan, wir können nicht ermessen, wie es ist, die Wahrheit hinter dem dichten Netz aus Lügen nicht zu kennen. Wir können noch weniger ermessen, wie es ist, sie plötzlich herauszufinden. Jack, Sie müssen begreifen, dass die Firma die Welt ernährt. Milliarden Menschen können ein beruhigtes Leben führen, weil die Firma am besten weiß, was gut für sie ist. Sie weiß es wesentlich besser als es die Menschen jemals selber wissen werden. Ich rate Ihnen, mal Dostojewskis Großinquisitor zu lesen. Wir tragen eine Bürde. Die Bürde ist auch ein Privileg. Aber in erster Linie lastet sie uns große Verantwortung auf. Der freie Markt mag eine Schimäre sein, aber glauben Sie mir: Es ist die humanste Schimäre der menschlichen Geschichte. Keine Herrschaft hat dem Gros der Menschen so viele Träume von einem selbstbestimmten Leben gelassen wie die unsrige. Wir müssen uns dessen nicht schämen. Wir können nur leider nicht zulassen, dass das Gros der Menschheit begreift, dass es nur Träume sind. Sie würden nach einer Wirklichkeit ihrer Träume verlangen, die nicht zu verwirklichen ist. Die Lüge vom freien Markt ist eine Notlüge, ein Schutzraum für die Massen. Jack, sehen Sie Ihre Entdeckungen nicht zu schwarz. Wir geben Ihnen die Möglichkeit, von einem Schaf zu einem Hirten zu werden. Sie haben es sich verdient und Sie sollten begreifen, dass das eine Ehre ist.“ Wieder die Fliegenperspektive von der Decke, der damalige Jack verwirrt, verstört, gefühllos und gedankenleer die Engels- und Teufelsgestalten um ihn herum betrachtend, seine Augen flatternd, sein Körper plötzlich kollabierend. War das wirklich passiert? Er sah sich in hundertfachen Facetten eines Fliegenauges zusammenkauern, Schleim auf das Sofa erbrechen, zitternd wie bei einem epileptischen Anfall. Mrs. Shine war gereizt aufgestanden: „Sehen Sie Quin, er erbricht sich auf meinem Sofa. Das war's. Die psychologische Prognose hat recht behalten. Er hat zu viele Skrupel. Er will nicht über den Menschen stehen. Er will eine gute Welt aus dem Bilderbuch. Das führt zu nichts. Ich plädiere dafür, ihn zu entsorgen. So, wie mein Sofa jetzt entsorgt werden muss.“ Quins Stimme: „Susan, Sie haben das nicht zu entscheiden. Er ist keine Gefahr. Es wäre Verschwendung, ihn zu liquidieren. Immerhin ist er ein passabler Buchhalter. Wir werden ihn an Bell überstellen. In Bells Institut können Sie Jack vielleicht helfen. Für Experimente dürfte er auf jeden Fall ein interessantes Exemplar abgeben. Und wenn Bell ihm nicht helfen kann, dann wird er zumindest dafür sorgen, dass Jack gut auf seine Medikamente eingestellt werden wird. Er wird eine Weile krankgeschrieben und kehrt dann auf seinen Arbeitsplatz zurück. Und was Ihr Sofa angeht, Susan: Ich werde dafür sorgen, dass sie eine Garnitur von McLarren erhalten. Ich erinnere mich, dass Sie vorletztes Jahr in Qualimba auf einer Party bei Patricia von dieser Garnitur sehr angetan waren, nicht wahr?“
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