Während der Fahrstuhl schon im 37. Stock angelangt war, versuchte Jack sich präzise an die Ereignisse jenes Tages zu erinnern, an dem einige Personifikationen der Macht seiner Ohnmacht die Hand geschüttelt hatten. Das Gefühl, dass der Fahrstuhl nicht nach oben fuhr, sondern nach unten stürzte, lenkte ihn dabei ein wenig ab. Etwa einen Monat nachdem er die Wahrheit über seine Firma herausgefunden hatte, nachdem er seinen ersten depressiven Zusammenbruch gehabt hatte, nachdem er erstmals auf medikamentösen Autopiloten eingestellt worden war, nachdem dieser Autopilot wieder zur Arbeit zurückgekehrt war … da hatten sie ihn eingeladen. Wie lange hatte er nicht mehr daran gedacht? Jetzt sah er das damalige Datum auf seinem Bürokalender vor seinem inneren Auge. Es war ein Donnerstag vor gut sechs Jahren gewesen. Ein hochgewachsener Mann war ins Büro gekommen. Eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt. Er war mit einem silbergrau glänzenden Anzug bekleidet gewesen, der edler gewirkt hatte als alle Anzüge, die Jack je gesehen hatte. Auch die Schuhe hatten ätherisch gewirkt. Er hatte keinen Schlips getragen, statt dessen waren die obersten Knöpfe seines Hemdes leger geöffnet gewesen und hatten den Blick auf ein wenig Brustwolle freigegeben. Weiße Brustwolle. Sein Haupthaar hingegen war blondbraun gewesen, länger als bei den meisten Büromenschen und ein wenig wuschelig. Die Haut seines Gesichtes und seiner Hände hatte wie die eines 20-Jährigen gewirkt, gänzlich faltenlos. Aber in seinem Blick hatte etwas sehr Altes gelegen, das zu der weißen Brustwolle gepasst hatte. Jack war sofort davon irritiert gewesen, dass dieser Mann alterlos wirkte. Man konnte es einfach nicht sagen. War er Anfang 20? Oder schon über 120? Er hatte Jack direkt mit seinem vollen Namen angesprochen und sich vorgestellt. Der Name kämpfte sich mühsam aus den verschütteten Erinnerungsschichten unterhalb von Jacks Autopiloten an die Oberfläche hervor: Mr. Quin. Mr. Quin hatte eine sehr gewählte Ausdrucksweise gehabt. Und er hatte eine Wärme und Zufriedenheit ausgestrahlt, die Jack surreal vorgekommen waren. Er hatte selbstzufrieden und spendabel gewirkt. In seinen Augen hatte eine Liebesfähigkeit gelegen, die Jack noch nicht einmal aus Filmen kannte.
Als der Fahrstuhl den 41. Stock erreichte und sich ein Mann zum Aussteigen an Jacks Schulter vorbei drückte, wurde Jack klar, dass er sich damals, als er Quin gesehen hatte, am liebsten an dessen Brust geworfen hätte, um wie ein kleiner Junge jämmerlich zu weinen. Quin hatte eine Aura umgeben, die einen Trost versprach, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Als wäre ein Engel von einem gnädigen Gott auf die Erde entsandt worden. „Bitte begleiten Sie mich zur Firmenleitung, Jack. Ich darf Sie doch Jack nennen?“ Quins Worte waren Balsam gewesen. Irgendetwas in seiner Stimmmelodie schien zu sagen: „Hab keine Angst, mein Sohn, alle Liebe der Welt weiß um dich und deinen Kummer.“
Der nächste Erinnerungsfetzen bewegte sich im Büro von Susan Shine, die oberste Geschäftsführerin des Firmenstandorts, an dem Jack seine Arbeit verrichtete. Jack hatte sie zuvor noch nie persönlich gesehen, geschweige denn, dass er jemals ihrem Büro auch nur auf 50 Stockwerke nahe gekommen war. Die Geschäftsleitung hatte einen eigenen Büroturm, in dem Jack höchstens drei, vier Mal überhaupt gewesen war. Mrs. Shines Büro lag im obersten Stockwerk, nein, war das oberste Stockwerk: Die etwa 500 Quadratmeter Grundfläche des Büroturms waren auf dieser Etage offen arrangiert. Abgesehen von den Aufzugsschächten und einem Zugang zum Treppenhaus versperrten nur hier und da tragende Säulen den Rundumblick über das Gelände der Firma und weit darüber hinaus über die Stadt. Es war ein schöner Tag mit klarem Wetter gewesen und Jack hatte den Eindruck gehabt, dass er sogar die Kirche in seiner siebzehn Kilometer entfernten Nachbarschaft von dieser 169. Etage ausmachen konnte. Die Einrichtung war überaus edel und mit viel Platz über die Etage verteilt gewesen. Wuchtige, antike Möbel und hochmoderne Designer-Computerelemente, Skulpturen, an einigen Säulen kleinere Gemälde, edle Stoffe. Der Raum hatte gediegenen Reichtum ausgestrahlt, der materielle Protz war offenbar von Innenarchitekten so arrangiert worden, dass man nicht allzu sehr davon eingeschüchtert wurde, sich zuhause fühlen konnte. Es gab einige Konferenz- und Schreibtische, sie aber hatten sich nach einer kurzen Begrüßung an einem filigranen Cafétisch niedergelassen, der von höchstbequemen Sofas umstanden gewesen war. Sie waren zu fünft auf der Etage gewesen, neben Jack, Quin und Shine noch zwei Männer, deren Namen Jack nicht mehr erinnern konnte. Er wusste aber, dass einer von den beiden Männern zum Management unter Mrs. Shine gehörte. Der andere schien wie Quin sein Arbeitszuhause nicht auf dem Firmengelände gehabt zu haben. Quin hatte es vorgezogen, sich nicht hinzusetzen. Er hatte Jack aus gut fünfzehn Metern Entfernung beobachtet und ab und an von einem Whiskey-Glas genippt. Mrs. Shine hatte sich wie Quin vergewissert, dass sie ihn einfach Jack nennen durften. Sie hatten ihn ein wenig so behandelt, als wäre er ein kleines Kind, ein hilfloser, verlorener Sohn der riesigen Firmenfamilie.
Nur am äußersten Rande seines Bewusstseins nahm der Autopilot in Jacks Kopf wahr, dass der Fahrstuhl bereits in der 47. Etage hielt. Jacks Büro war in der 44. Etage, er hätte eigentlich längst ausgestiegen sein sollen. Der Autopilot schien anderes im Sinn zu haben. Oder kam das von den Erinnerungen und dem irritierenden Wiedereintritt in die Atmosphäre eines fühlenden Wesens? Es bekümmerte Jack nicht weiter. Was sollte ihm schon Schlimmes passieren? Der größte Teil seines Wesens war noch immer in Gleichgültigkeit gefesselt. Der Teil, der sich erinnern und fühlen wollte, konnte sich als Schlimmstes nur vorstellen, wieder gänzlich in die Apathie seines gleichförmig fühllosen Lebens zu fallen. Er versuchte, sich weiter auf das Gespräch im 169. Stock zu konzentrieren. Mrs. Shine hatte den größten Teil der Unterhaltung bestritten. Was hatte sie gesagt? Er konnte ihre weiche Stimme in seinem Kopf hören. Sie hatten sanft mit ihm gesprochen. Vielleicht so, wie die Götter der antiken Welten mit einem Halbgott gesprochen hätten, der über die Stränge geschlagen hatte und mit Einfühlungsvermögen wieder auf den Pfad der Tugend geführt werden sollte. Wäre Mrs. Shine zu einem ihrer antiken Schränke gegangen und hätte Zeus' Donnerblitze herausgeholt, um sie auf Jack zu schleudern, hätte sich Jack damals wohl nicht gewundert. Die Macht der Personen wurde ausreichend von der Einrichtung, der Kleidung, dem Blick über die Stadt und ihrem gebildeten Gehabe unterstrichen. Sie brauchten nicht weiter mit ihren Muskeln zu spielen, Jack war auch in seinem Autopiloten-Bewusstsein klar gewesen, dass er in einer anderen Dimension lebte als diese Menschen. Er war kaum mehr als eine Küchenschabe, die sie aus reiner Unachtsamkeit hätten zertreten können. Vermutlich hätten nicht einmal Jacks Frau und seine Kinder die Schabe vermisst. „Sie haben uns beeindruckt, Jack.“ Shines Stimme hallte in seinem Kopf wider: „Sie haben uns beeindruckt, Jack. Ihre Recherchen im Firmennetz wurden selbstverständlich die ganze Zeit protokolliert. Ich hatte Ihren Namen auf meinem Schreibtisch, da waren sie erst drei Wochen Teil unserer Firma. Sie können sich vorstellen, dass nicht alle Lappalien über meinen Tisch wandern. Ihr Name aber ist mir schon fast eineinhalb Jahre bekannt. Unsere Sicherheitsleute glauben, dass Sie so naiv sind, dass Ihnen das nicht klar war. War Ihnen das nicht klar?“ Jack erinnerte sich, dass er nur stammelnd geantwortet hatte: „Ähm, ich … nun, niemand hat mich aufgehalten. Da war … ich meine … ähm … da war niemand, der mich zur Rede gestellt hat. Hin und wieder hatte ich den Verdacht, dass ich vielleicht zu weit gehen würde … aber es gab keine Reaktionen. Es schien also in Ordnung zu sein. Oder? Ich meine, ähm, ich konnte mit meinem Passwort ja an all diese Daten gelangen. Es steht auch nichts diesbezüglich … ähm, ich meine, äh, mein Arbeitsvertrag enthält darüber keinen Passus.“ Sie hatten ihn neugierig angeschaut, freundlich, unendlich geduldig. Galt in ihrer Welt nicht das Motto, dass time money ist?
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