In den Gefängnissen wurden sie selbstverständlich zur Not auch mit physischem Zwang zur Einnahme der Medikamente gebracht. Der wesentliche Effekt der Medikamente war nachweislich nicht die Linderung der Symptome. An ursächliche Heilung der Depression schien ohnehin schon gar niemand mehr zu glauben. Kurzfristige Stimmungsaufhellung mochte ein angenehmer Begleiteffekt der Medikamente sein. Ihre eigentliche Wirksamkeit bestand allerdings darin, das Heer der Depressiven arbeitsfähig zu halten. Kognitive Stabilisierung war eine gerne benutzte Vokabel. Mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegte sich Jack daher trotz all der zähen Fühllosigkeit in ihm durch die Rhythmen seines Lebens, deren Sinn ihm immer mehr abhanden kam. Irgendwie stabilisierten die Medikamente seine Denk- und Motivationsfähigkeiten zumindest insoweit, dass er sich dem vorgestanzten Takt seines Lebens einfach hingab. Vielleicht war es auch schon immer so gewesen. Dienstags, donnerstags und samstags verkehrte er intim mit seiner Frau, die ihm ebenso wie sein eigenes Leben immer mehr zur leeren Hülle wurde. Das war eine Empfehlung ihrer Ärzte gewesen, an die sie sich aus purer Trägheit hielten. Er erinnerte sich vage, dass es eine Zeit gegeben haben musste, in der die Berührung ihrer Körper eine wundervolle Bedeutung hatte, genußvoll war, ihm und ihr Kraft spendete. Heute unterschied sich der Akt der Aufnahme seiner Morgenpampe emotional nicht mehr von irgendeiner anderen Tätigkeit. Sex, das regelmäßige Spielen mit seiner siebenjährigen Tochter und seinem fünfjährigen Sohn, die regelmäßigen Spaziergänge am nahe gelegenen See, Urlaubsreisen ans Meer oder in die Berge ... nichts konnte ihn erheitern, nichts ihn aufregen, nichts ihn ängstigen. Die Gleichgültigkeit bewegte sich durch Raum und Zeit und war sich meistens schon gar nicht mehr bewusst, dass sie eine Person namens Jack war. Obwohl die Gleichgültigkeit wie von Geisterhand antwortete, wenn jemand sie als Jack ansprach.
Das war schon lange so. Die Diagnosen seiner Hausärztin Audrey wurden mit den Jahren komplexer, die medizinische Nomenklatur des depressiv Apathischen hatte in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine gewaltige Ausfransung erlebt. Heute, im Jahr 2067, unterschieden die praktizierenden Neuropsychologen etwa zwei Millionen verschiedene Varianten von Depression. Die forschenden Institute gingen angeblich von einer Zahl aus, die mehr Nullen hatte als es depressive Nulpen auf der Welt gab. Jacks monatliches Check-Up hatte zuletzt 27.367 davon bei ihm nachgewiesen. Audrey hatte gesagt, dass das noch eine moderate Zahl sei und er sich insbesondere glücklich schätzen könne, keine der wirklich schweren Formen aufzuweisen. Jack hatte sie bei dem Versuch verständnislos angeguckt, der Phrase 'sich glücklich zu schätzen' irgendeine Bedeutung abzugewinnen. Die pharmazeutische Industrie konnte allein mit rund zweihundertzwanzigtausend verschiedenen Präparaten gegen Depression aufwarten. Doch kaum jemand von den Betroffenen war noch motiviert genug, um ausreichend Galgenhumor für den Scherz aufzubringen, dass davon kein einziges half. Ein Armutszeugnis, das kaum noch jemand als ein Armutszeugnis empfand oder aussprach.
Jack beschäftigte sich mit diesen Dingen gedanklich. Er wusste nicht recht, wie es kam, dass sein Geist sich in dem Meer von bedeutungslosen Ereignissen seines Lebens doch an diesem oder jenem festklammerte. Auf der Arbeit gleitete sein Geist wie durch Zauberhand durch das Meer von Finanzberechnungen, das ihm genauso egal war wie der Duft einer schönen Frau, ein Sonnenuntergang oder das Gefühl, heißen Meeresstrandsand zwischen den Zehen zu spüren. Und so wie sein Geist auf der Arbeit automatisch das verrichtete, was von ihm verlangt wurde, beschäftigte sich dieser Geist während der Freizeit vollautomatisch mit Zahlen und Fakten zum gesellschaftlichen Stand der Depression. Wobei er freilich nur interessierter Laie war und zugeben musste, dass er über die eigentliche wissenschaftliche Erforschung der Depression nicht viel wusste. Aber er hatte ein gewaltiges Sammelsurium von Informationen aus dem Netz, aus seinem Medien-Channel, aus Gesprächen mit Bekannten im Kopf. Und irgendwie musste dieser Kopf diese Informationen drehen und wenden, drehen und wenden, drehen und wenden …
Wenn er sich wirklich anstrengte, konnte er sich daran erinnern, dass er in der Anfangszeit seiner Depression auch manische Phasen gehabt hatte, in denen er sich engagiert damit beschäftigt hatte, wie er die Depression loswerden könne. Die manischen Phasen waren damals noch eine Nebenwirkung der Medikamente gewesen. Diese Zeiten waren leider vorbei. Neben der Schulmedizin gab es selbstverständlich unendlich viele Vorschläge für den Hausgebrauch aus allen Ecken der Welt, mit denen man angeblich der Depression zu Leibe rücken konnte. Jack war zu sehr nüchterner Zahlenmensch, um nicht zu sehen, dass es unwahrscheinlich war, dass es irgendwo auf der Welt eine funktionierende Gegenmaßnahme gab. Sonst hätte doch die Zahl der weltweit Erkrankten nicht kontinuierlich steigen können. Andererseits: Wenn jeder so resignativ dachte, dann hätte sich eine funktionierende Gegenmaßnahme auch nicht durchsetzen können. Vielleicht gab es sie also doch, aber nur eine kleine Gruppe von Eingeweihten wusste davon? Einige Monate hatte er sich in seiner Freizeit durch das www geklickt, auf der Suche nach einer Heilung. Er hatte exotisches Gemüse und genmanipuliertes Obst ausprobiert, Hunderte von Mittelchen mit geheimen Wirkstoffen, Homöopathisches. Er war bei selbsternannten Heilern, Medien, Gurus, personal coaches und Gymnastiklehrern gewesen. Vor drei Jahren hatte er zwei Urlaubswochen im Himalaja bei buddhistischen Mönchen verbracht. Seine Frau hatte er nicht dazu überreden können mitzukommen. Er hatte daraus vor allem gelernt, dass er ein gänzlich neues Leben beginnen müsste, am besten wäre wohl die Existenz als selbstversorgender Kleinbauer irgendwo an den Rändern der zivilisierten Welt. Dazu hatte er nicht die Energie, nicht einmal annähernd. Auf dem Trip in den Himalaja hatte er sich nicht besser gefühlt, tatsächlich hatte er sich und die fremden Menschen und Landschaften überhaupt nicht gefühlt, hinterher aber fühlte er sich noch ausgepumpter. Dass sportliche Betätigung noch immer die beste Medizin gegen Depression darstellte, war ein weitverbreiteter Glaube. Jack kannte quasi niemanden, der nicht wenigstens eine Stunde am Tag mit ausgedehnten Körperertüchtigungen verbrachte. An jeder Straßenecke gab es die unterschiedlichsten Fitness-Studios. Ihm half das nicht. Und so weit er beurteilen konnte: den anderen auch nicht. Dann wurde ihm klar: Er kannte doch sehr viele Leute, die es schon wieder aufgegeben hatten, Sport zu treiben. Die wirklich harten Fälle lagen ohnehin nur noch bewegungslos in ihrem Brei aus Gefühllosigkeit. Die Talkshows behaupteten, dass die Zahl der Suizide im 21. Jahrhundert eher zurück gegangen sei. Kritiker behaupteten zwar, dass die Statistiken gefälscht wurden. Jeder kannte irgendjemanden, der sich selbst das Leben genommen hatte. Aber das war wohl auch schon im 20. Jahrhundert so gewesen. Der behauptete Rückgang der Suizide wurde den Fortschritten der medizinischen Forschung hoch angerechnet. Manchmal sprach aber auch ein Talkmaster, dem seine Gleichgültigkeit über das Getriebe, in das er eingespannt war, an den hängenden Wangen anzusehen war, aus, was die meisten Leute vermuteten: War die Zahl der Suizide tatsächlich gesunken, dann wohl einfach deshalb, weil es schon einfach zu egal war, ob man tot oder lebendig war. Dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, hatte etwas Theatralisches. Es war Ausdruck einer Emotionalität, die kaum noch jemand aufbringen konnte. Hinzu kamen die praktischen Anstrengungen. Man musste sich ja zumindest aufraffen, das Fenster zu öffnen und herauszuspringen, sofern man denn in einem Wolkenkratzer wohnte.
Die Medikamente wirkten seltsamerweise so, dass die Menschen die täglich von ihnen geforderten Aufgaben ausführten. Dabei agierten sie aber wie auf Autopilot, gefühlsmäßig war niemand bei der Sache. Präziser vielleicht: Gefühlsmäßiges war einfach keine Tatsache mehr. Alles war leer und stumpf und bewegte sich irgendwie doch. Irgendwie aber schafften die Medikamente es, diese leere Bewegung so einzuschränken, dass sich nur wenige zu der Freiheit aufrafften, das eigene Leben zu beenden. Jack hatte jedenfalls irgendwo mal gelesen, dass dies Freiheit sei, vielleicht sogar die einzige, die blieb.
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