„Für die klassische, Newtonsche Physik und selbst für das Jahrhundert zwischen der Schrödinger-Gleichung und der Cartos'schen Quantenreflexion im Synapsenspalt wäre eine solche Behauptung abergläubisch gewesen: Gedanken und Gefühle können – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – fernwirkend Objekte manipulieren. Ebenso erstaunlich, wenn nicht noch erstaunlicher aber ist die Tatsache, dass diese Objekte – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – ihrerseits auf eine solche Manipulation antworten und damit sozusagen die Gedanken und Gefühle eines Menschen beeinflussen. Ja, es ist sogar nicht einmal nötig, dass Sie zuerst an eine Sache denken. Theoretisch besteht durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ihre und meine Gedanken von Gegenständen und anderen Lebewesen beeinflusst werden, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen. Wie Ihnen vermutlich bekannt ist, sind diese mehr oder weniger wahrscheinlichen Tatsachen die grundlegenden Forschungsgegenstände dieses Instituts.“
Bell sprach damit keine Neuigkeit aus. Jedes Kind hatte heutzutage schon einmal von diesem Zusammenhang gehört. Doch aus seiner Perspektive war es noch immer sonderbar, diese klaren Sätze auszusprechen. Er selbst hatte bereits in seinem Studium von Cartos' Experimenten gehört, entstammte aber doch in gewisser Weise noch einer Zeit, die Cartos' Ergebnisse in das Reich der Fabeln verwiesen hätte, wenn sie nicht experimentell unwiderleglich gewesen wären. Auch wenn er nunmehr fast vier Jahrzehnte auf den Schultern von Cartos forschte, erschien es ihm noch immer absonderlich, mit der Würde eines gealterten Professors solche Worte auszusprechen.
„Wenn Sie sich eben also einen flatternden Schmetterling vorgestellt haben, so besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie mit dieser Vorstellung eine Art Kontakt zu einem der Schmetterlinge draußen im Park aufgenommen haben. Vielleicht sogar zu mehreren oder sogar allen Schmetterlingen, die in allen möglichen Welten jemals gelebt haben und leben werden. Auf der Ebene der Quantenwelt sprechen wir in einem solchen Fall von Verschränkung: Die Prozesse in Ihrem Gehirn haben sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit den Prozessen verschränkt, die wir mit unseren Alltagsvokabeln als 'flatternde Schmetterlinge' bezeichnen. Da diese mehr oder weniger wahrscheinlichen Verschränkungen eine Tatsache darstellen, bin ich auf die Hypothese verfallen, dass unsere intellektuellen Fähigkeiten davon profitieren können, wenn wir unsere Vorstellungskraft auf bestimmte Objekte bündeln. Fokussieren Sie sich z. B. auf die flatternden Schmetterlinge, so könnte eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestehen, dass Sie von den kognitiven Verarbeitungsfähigkeiten flatternder Schmetterlinge profitieren. Vielleicht kommen Sie in Ihrem Studium einmal dazu, sich eingehender mit der Physiologie von Schmetterlingen zu beschäftigen. Aber auch ohne detailliertes Wissen dürfte Ihnen einleuchten, dass Schmetterlinge die Welt mit anderen Sinnesorganen wahrnehmen als Menschen das tun, dass sie sich auf andere Weisen durch die Welt bewegen, dass sie auf eine andere Weise in das Gesamtgespinst des Universums eingewoben sind. Selbst wenn wir also davon ausgehen, dass Schmetterlinge unendlich dumm im Verhältnis zu uns Menschen sind, so mögen sie doch über Klugheiten verfügen, von denen wir normalerweise nichts wissen. Und das gilt nicht nur für Lebewesen, denen wir eine wenigstens geringe Intelligenz nicht gänzlich absprechen können, sondern auch für die unbelebte Natur. Ein beliebiger Stein zum Beispiel existiert auf eine andere Weise im Universum als Sie und ich existieren. Insofern er existiert, ist er ein Teil der Wellenfunktion des Universums und repräsentiert damit ein Wissen, dass Sie und ich erst einmal nicht haben. Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass ein Stein etwas wissen kann, aber ein Stein ist auf eine Weise in die Welt verwoben, die einzigartig ist. Wenn Sie sich nun auf einen Stein konzentrieren, so kann Ihr Gehirn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die übrigens verschwindend gering, aber dennoch vorhanden ist, mit dieser Einzigartigkeit in Berührung kommen und dadurch vielleicht etwas Neues lernen. Meine Hypothese bedeutet also Folgendes: Wann immer Sie sich mit Ihrer bildhaften Phantasie auf etwas konzentrieren, oder auch auf jemanden, unterschätzen Sie bitte nicht die Möglichkeit, sich auf Menschen zu konzentrieren und sich dadurch mit ihnen zu verschränken … also, wann immer Sie sich auf etwas fokussieren, besteht zumindest die prinzipielle Möglichkeit, dass Sie dadurch etwas Neues lernen, weil Sie sich mit etwas verschränken, das Sie nicht selbst sind.“
Bell sah einige faszinierte Gesichter vor sich. Viele schauten ihn aber auch verständnislos an.
„Wie gesagt: Die Hypothese ist zum derzeitigen Punkt der Forschung weder zu beweisen noch zu widerlegen. Sollte sie sich aber eines Tages als wahr erweisen, dann gäbe das einen guten zweiten Grund dafür ab, Sie dazu aufzufordern, sich regelmäßig mit Phantasie auf alles Mögliche und Unmögliche zu fokussieren. Sollte es Ihnen beispielsweise gelingen, sich einen 37-dimensionalen Raum vor Ihrem inneren Auge vorzustellen, so könnte das im Rahmen meiner Hypothese bedeuten, dass Sie mit einer solchen Vorstellung Ihr Wissen über 37-dimensionale Räume insofern erweitern, als sich bestimmte Quantenprozesse in Ihrem Gehirn mit der Objektivität von 37-dimensionalen Räumen verschränkt. Ein faszinierender Gedanke von abgründiger Bodenlosigkeit.“
Mit einem Blick ins Auditorium stellte sich bei Bell das Gefühl ein, dass unterdessen kaum noch jemand im Auditorium dem Sinn seiner Ausführungen folgen konnte. Vielleicht würden die jungen Neuzugänge sich in späteren Jahren aber doch irgendwie an diese Gedanken erinnern. Die Zeit war ohnehin ein umso größeres Mysterium, je mehr man über sie zu wissen glaubte.
„Es ist auf vielen Ebenen bewiesen worden, dass die Menschheit niemals ein exaktes Wissen über die Gesamtheit der Wellenfunktion des Universums gewinnen können wird. Dies liegt an einer Fülle von Problemen. Da wäre zum Beispiel die Selbstbezüglichkeit: Jedes Wissen stellt selbst einen Teil der Gesamtwellenfunktion dar und muss daher als objektiver Tatbestand selbst gewusst werden, was zu einem unendlichen Regress zu führen scheint. Auf jeden Fall aber müsste die Gesamtwellenfunktion des Universums sich mindestens in eine reine Bewusstheit ihrer selbst verwandeln, damit nicht mehr Informationen vorhanden sind als erkannt werden können. Sie kennen vielleicht den alten Spruch, der diesen Zusammenhang in eine Paradoxie kleidet: Wenn unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir zu dumm, um es zu verstehen. Ein weiteres Problem liegt selbstverständlich in der Heisenbergschen Unschärferelation, die uns ganz grundsätzlich vor das Problem stellt, dass wir immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit etwas von unseren grundlegenden Forschungsgegenständen wissen. Dann gibt es das ganz praktische Problem, dass das Universum unermesslich groß ist. Wie sollen wir das alles messen? Und das Problem der Selbstbezüglichkeit reproduziert sich auf der Ebene der Messanordnung: Auch unsere Messgeräte sind ein Teil der Gesamtwirklichkeit und müssten sich also selber ebenfalls messen. Sie werden im Laufe Ihres Studiums etliche Gründe mehr dafür kennenlernen, warum wir das, was uns eigentlich wirklich interessiert, niemals erreichen werden, nämlich eine Allwissenheit, die es uns überhaupt erst ermöglichen würde, nicht mehr mit Wahrscheinlichkeit, sondern mit Exaktheit Aussagen zu treffen.“
Auch wenn Bell von der Schlüssigkeit dieser Gründe überzeugt war, von denen tatsächlich unzählige Varianten in den hochkomplexen Gebilden der Mathematik niedergelegt und auf die empirischen Phänomene der Welt bezogen worden waren, blieb er doch Skeptiker. Ihm behagte die Vorstellung einfach nicht, dass das Wissen beschränkt sei. Er mochte nicht Teil einer Welt sein, die rational undurchdringlich war. Vielleicht mochte er einfach nur nicht die Tatsache, dass er kein allwissender und allmächtiger Gott war.
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