Curt unterbrach ihn ohne von seinem Sitz aufzustehen: „Magos ist ein Kommunist, der nicht einmal in China ernst genommen wird. Ein Spinner, der glaubt, dass die Menschheit überlebensfähig wäre, wenn niemand sagt, wo es langgeht. Lehren Sie hier Kommunismus, oder was?“
Bell wurde ungehalten. Niemand hatte in seinem Institut vor seinen Studenten das Recht, ihm so über den Mund zu fahren. Aber konnte er es wagen, Curt einfach vom Sicherheitsdienst aus dem Institut werfen zu lassen? Die politischen Konsequenzen waren schwer einzuschätzen. Einen Dämpfer musste er diesem arroganten Zögling aus reichem Haus in jedem Fall verpassen.
„Mr. Lagrange, noch so eine Respektlosigkeit von Ihnen und ich werde den Sicherheitsdienst bitten, Ihnen die Möglichkeit zu geben, Ihren Übermut im Park etwas abzukühlen. Man unterbricht Vortragende nicht einfach. Schon gar nicht mit solch unqualifizierten Bemerkungen. Professor Magos ist alles andere als ein Spinner. Jedenfalls sicherlich nicht mehr als auch jeder andere, der heutzutage ernsthaft forscht. Ich bin ihm mehrfach begegnet. Er ist ein freundlicher und bescheidener Mann, der sich der Forschung verschrieben hat. Seine Forschungen sind sachhaltig, zeugen von einem brillanten Geist und wirken auf alle, die sich ernsthaft damit befassen, höchst inspirierend. Die Entwicklung der neuesten Generation von Screening-Geräten verdankt sich in wesentlichen Punkten seiner Forschung. Das nach ihm benannte Theorem ist mit einer Wahrscheinlichkeit von über 37 Prozent eine wahre Aussage über die Natur unserer Welt. Sie werden in Ihrem Studium feststellen, dass das ein enorm hoher Wert ist, ein einzigartig hoher Wert angesichts der Vagheit all unserer Forschungsergebnisse und insbesondere angesichts der Komplexität der Aussagen dieses Theorems. Wobei: Sie, Mr. Lagrange werden das vielleicht nicht verstehen mit ihrem auf bloße 137 Punkte hochgedopten IQ. Das Magos-Theorem erfordert einen immensen Überblick und große Konzentration.“
Das hatte tatsächlich gesessen. Er konnte sehen, wie Curt Lagrange rot anlief. Gut zu wissen: Er schämte sich offenkundig dafür, dass er nicht die intellektuellen Kapazitäten seiner Kommilitonen hatte. Die Rechtsabteilung des Instituts würde von dieser disziplinierenden Indiskretion Bells allerdings alles andere als begeistert sein. Die Ergebnisse der Tests fielen unter Datenschutzbestimmungen, die es der Familie Lagrange ermöglichen würde, Bell vor ein Gericht zu ziehen und nur wegen dieser kleinen Bemerkung um ein paar oder ein paar mehr Millionen leichter zu machen. Bell aber besaß zu viele Millionen, um diese Rechnung nicht gerne zu begleichen.
„Ihr Kommunisten-Gewäsch ist nicht würdig, kommentiert zu werden. Die sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen, die eine gewisse Nähe zu Professor Magos' Theorem haben, lassen sich mit solch unqualifizierten Bemerkungen nicht einfach vom Tisch wischen. Magos selbst hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er überhaupt erst durch die Reaktionen nach der Veröffentlichung seines Theorems damit begonnen hat, sich mit diesen Strömungen zu befassen. Sein Theorem ist rein physikalisch und mathematisch motiviert. Wer es studiert hat, weiß das. Dies hier ist kein historisches Seminar und noch weniger eine Bühne für politische Propaganda. Es geht hier um naturwissenschaftliche Forschung. Ich möchte Sie nun alle bitten, mir die Möglichkeit zu geben, meinen Begrüßungsvortrag in der verbleibenden Zeit abzuschließen.“
Bells Vortrag zum Stand des Wissens über das Unwissen
Curt hielt die Arme verschränkt und den Mund. Bell war klar, dass er ihn vor versammelter Mannschaft gekränkt hatte. Junge Männer konnten auf so etwas überaus empfindlich reagieren. Und da er ein Bürger Qualimbas war, konnte eine empfindliche Reaktion ein großes Spektrum an Unannehmlichkeiten für Bell mit sich bringen. Er hatte wenig Lust, sich mit solchen Problemen herumzuschlagen, sah aber die deutliche Notwendigkeit. Falls Curt die Rückendeckung des Rats von Qualimba hatte, war gerade vielleicht ein Krieg ausgebrochen, der Bell mitsamt seinem Institut dem Erdboden gleich machen konnte. Er musste sich einen Moment sammeln und ging wieder über zu seinem Standardvortrag:
„Eine präzise Vorstellung von den Gegenständen unseres Fachs zu gewinnen, ist deshalb so schwer, weil wir es mit Phänomenen zu tun haben, die sich unserem alltäglichen Lebenszusammenhang entziehen, die teilweise absurd wirken, die nur mit überaus feinen und komplexen Messinstrumenten überhaupt sichtbar gemacht werden und sich uns überhaupt nur über komplexe mathematische Konstrukte erschließen, die nur nach langjähriger Beschäftigung für überdurchschnittlich begabte Menschen verständlich sind und ohne die Mühen eines großen Verbunds von Forschern genauso wenig zustande gekommen wären wie ohne die Leistungsfähigkeit unserer Supercomputer. Cartos fand in einem Vortrag vor 17 Jahren, kurz vor seinem tragischen Tod, ein schillerndes Bild für unsere Tätigkeit. Er sagte sinngemäß etwa Folgendes: Wir suchen nach der Nadel im Heuhaufen. Bloß befindet sich der Heuhaufen mit der Nadel vermutlich auf einem Planeten, der von einem schwarzen Loch in einer fernen Galaxie verschluckt worden ist. Wir halten nur einen kleinen Magneten hier auf unserer Erde in der Hand und haben die Hoffnung, dass wir den Magneten an einem uns unbekannten Punkt irgendwo auf der Erde in einem uns unbekannten Winkel so halten können, dass die Nadel aus dem Heuhaufen und aus dem schwarzen Loch direkt auf unseren Planeten zufliegt. Wenn wir Glück haben, braucht die Nadel für diesen Flug weniger als 15 Milliarden Jahre. Vorausgesetzt, wir halten den Magneten die ganze Zeit am richtigen Punkt und im richtigen Winkel, von dem wir aber erst wissen können, dass es der richtige Punkt und Winkel ist, wenn die Nadel endlich angekommen ist. Zudem macht uns Kopfzerbrechen, dass sich unser Planet in einem unbekannten Verhältnis zu dem Ort dreht, an dem die Nadel sich befindet, richtiger Punkt und richtiger Winkel sich also permanent auf eine unbekannte Weise ändern. Außerdem ist es nur eine Vermutung, dass es die Nadel im Heuhaufen tatsächlich gibt. Vielleicht haben wir auch Pech und sie existiert gar nicht. Außerdem glauben wir nicht daran, dass eine solche Nadel den Weg aus einem schwarzen Loch herausfinden kann oder unser kleiner Magnet auf diese Entfernung überhaupt fähig wäre, die Nadel zu bewegen. Finden aber wollen wir sie.“
Bell sah irritierte Gesichter im Auditorium. Dafür war die Geschichte des alten Cartos' da. Ein vages Gefühl für die Schwierigkeiten zu vermitteln, mit denen sich die heutige Quantenphysik rumschlug, war nicht ganz einfach. Die meisten Menschen sahen nur die kleinen Erfolge der Forschung. Neue Technologien, neue Therapien, eine faszinierend grundlegende Beherrschbarkeit aller Energie und Materie im Dienste der Bedürfnisse von Menschen. Die Forscher hingegen wussten, dass das Bullshit war. Alle Technologien waren bloß vereinzelte Glücksfunde einer geduldig forschenden großen Gemeinschaft. Technologische Beherrschbarkeit war ein Geschenk, von dem keinem Experten klar war, womit sie es verdient hatten.
„Nun, Sie werden im Laufe Ihres Studiums immer deutlicher zu verstehen lernen, dass Cartos' Nadel-im-Heuhaufen-Bild in vielerlei Hinsicht noch deutlich zu optimistisch gezeichnet ist. Andererseits jedoch werden Sie feststellen, dass die Menschheit bereits eine immense Anzahl an Nadeln gefunden hat, die keineswegs viel leichter zu finden sind als die Nadel von Cartos. Es gibt also sowohl sehr gute Gründe für einen radikalen Pessimismus der Forscher, jemals verstehen zu können, was wir verstehen wollen, wie es auch sehr gute Gründe für einen radikalen Optimismus der Forscher gibt.
Vielleicht haben Sie einmal von dem antiken griechischen Philosophen Sokrates gehört. Er sagte unter anderem: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Wir nutzen die Mathematik und das Experiment, um präzise zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit, mit welcher Ungewissheit und mit welchen Vagheiten wir etwas wissen und nicht wissen. Im eigentlichen Sinne wissen wir tatsächlich nichts über unseren Gegenstand, den wir eben nicht anders bestimmen können denn als Wellenfunktion des Universums, als eine Gesamtheit der Natur, in die wir und unsere Messinstrumente zu jeder Zeit eingebunden bleiben. Aber wir haben erstaunliche Kenntnisse über unseren Gegenstand gewonnen, wir verfügen über ein reiches Inventar von Technologien, die uns nicht nur im täglichen Leben dabei helfen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen, sondern die auch unsere Forschung voranbringen. Und wir lernen täglich mehr.“
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