Bell sah wieder viele irritierte Gesichter im Auditorium. Es war eigentlich ganz egal, wie man es anstellte: Die gesamte Theorie der Quantenphysik blieb einfach ein Mysterium, gegen das der Alltagsverstand rebellierte. Bell wusste, dass er in der ersten Vorlesung nicht mehr versuchen konnte, als die Studenten für die Problematiken zu sensibilisieren. Er konnte dabei aber nicht behaupten, selber sensibel genug für sie zu sein, um wirklich ein klares Bild der Problematiken zeichnen zu können.
„Nun, Sie sehen also, inwiefern das Beispiel mit dem altmodischen Buch hinkt. Dennoch ist dies ein gutes Beispiel, um eine Vorstellung vom Begriff der Verschränkung zu bekommen. Das Schockierende für die Physik des 20. Jahrhunderts war, dass die Quantenverschränkung im Prinzip auf unendlichen Entfernungen und in absoluter Gleichzeitigkeit wirkt. Zwei Tatsachen, die sich nicht mit der Relativitätstheorie in Einklang bringen ließen. Auch heute ist dieses Problem keineswegs gänzlich gelöst, wenn auch wesentlich besser verstanden als noch vor 50 Jahren. Allerdings muss ich dazu sagen, dass uns der Begriff der Gleichzeitigkeit zwischen den Forscherhänden zerbröselt. Grob gesprochen, können wir von elf Dimensionen des 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raumes nur sehr allgemeine Aussagen treffen, die es uns jedenfalls nicht möglich machen, eine klare Identifikation der Proportionen unserer Gegenstände in diesen elf Dimensionen vorzunehmen. Zwischen unendlich groß und unendlich klein, zwischen positiv und negativ ist alles möglich. Und wenn ich alles meine, so meine ich, dass es gut möglich ist, dass ein simples Elektron in zum Beispiel der 27. Dimension unseres Standard-Quanten-Raums in der Tat sowohl unendlich groß als auch unendlich klein ist. Was auch immer das bedeuten mag. Für unsere ohnehin durch die Relativitätstheorie und durch die Quanten-Verschränktheit irritierten Zeitbegriffe kommt nun erschwerend hinzu, dass es Abhängigkeiten zwischen der vierten Dimension, also unserer Zeit-Dimension, und beispielsweise der 27. Dimension unseres Standard-Quanten-Raumes gibt. Das aber heißt nichts anderes, als dass die Verschränktheit der Quantenwelt eine ist, die zwar unter anderem aus unserem Wissen über die vierte Dimension gefolgert werden musste, die Grenzen dieser Dimension aber auch hinter sich lässt. Sie können daher durchaus mit Recht sagen, dass die Verschränktheit der Quanten sich sowohl gleichzeitig durch das gesamte Universum ausbreitet, also instantan, was wir eindeutig bewiesen haben, als auch mit einer gewissen Geschwindigkeit, die von der Gleichzeitigkeit abweicht. Wir gehen davon aus, auch wenn wir es noch nicht beweisen können, dass wir es mit einer Verschränktheit zu tun haben, die sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit reicht. Was wir beweisen können, ist, dass sie jedenfalls in Dimensionen reicht, von denen wir gar nicht recht wissen, was wir von ihnen halten sollen.“
Die Uhr fing an, Bell zu drängeln. Er versuchte schon, möglichst schnell zu sprechen. Wieder ging ein Finger hoch und wieder gab Bell dem Impuls nach, mit den Studenten ins Gespräch zu kommen. „Gut, trotz der fortgeschrittenen Zeit lasse ich noch diesen Redebeitrag zu. Stehen Sie bitte auf.“
Es war wieder Ms. Magahenga, die sich zu Wort meldete. Sie stand auf und lächelte Bell freundlich an. Ihre Augen blieben für Bell ein Faszinosum. „Bitte helfen Sie mir zu verstehen, inwiefern sich das, was Sie gerade sagten, eigentlich von dem Kausalitätsbegriff der klassischen Physik unterscheidet, Professor Bell. Wenn ich Sie richtig verstehe, so hängt jedes Phänomen, das wir messen, von der Gesamtheit des Universums ab und zwar von einer Gesamtheit, die uns zwar die Vorstellung eines zeitlichen Verlaufs nahelegt, uns unterdessen aber auch mitteilt, dass Zeit eine Illusion ist. Ich verstehe selbstverständlich, dass die zeitliche Dimension für den Kausalitätsbegriff der klassischen Physik vollkommen unentbehrlich ist: Ursache und Wirkung müssen in einer gewissen zeitlichen Distanz stehen, um sie als Ursache und Wirkung auseinanderhalten zu können, nicht wahr? Aber wenn wir uns Ursache und Wirkung als einen zeitlosen oder besser vielleicht als einen zeitunabhängigen Zusammenhang vorstellen, so scheint mir das Phänomen der Quanten-Verschränktheit doch sehr gut auf eine solche Vorstellung von Ursache und Wirkung zu passen. Würden Sie mir da zustimmen? … Das heißt, vielleicht wäre es noch besser, von einem Zusammenhang zu sprechen, der sowohl von der Zeit abhängt als auch unabhängig von ihr ist. Unsere Sprache lässt uns da etwas im Stich, oder, Professor?“
Bell musste für einen Moment herzhaft lachen. Er nahm sich schnell wieder zusammen und fragte sich leicht verzweifelt, wie lange er schon nicht mehr herzhaft gelacht hatte. „Vielen Dank, Ms. Magahenga. Setzen Sie sich bitte wieder. Ich freue mich wirklich über Ihre erfrischende Sichtweise. Ich hoffe, dass Sie viel Freude an meinem Institut haben werden. Nun, ich denke, ich werde mir die Freiheit herausnehmen, nicht auf Ihre Fragen zu antworten. Sie sind ganz offensichtlich bereits eine junge Forscherin und werden bald sehr wohl selbst in der Lage sein, sich ein Forschungsdesign zu überlegen, mit dem Sie diese Fragen vielleicht beantworten können. Ich möchte dazu nur so viel sagen: Wenn Sie in der Lage sind, den Kausalitätsbegriff sowohl abhängig wie auch unabhängig von der Zeitdimension zu denken, dann dürfte Ihnen das Verständnis der mathematischen Grundlagen zur Theorie des 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raums wesentlich leichter fallen als mir.“
Bell lächelte sie für einen Moment herzlich an und ging dann wieder über zu seinem Vortrag.„Nun, mit der Dekohärenztheorie genehmigten sich die Physiker eine Immunisierung. Sie wollten nicht akzeptieren, dass die Kohärenz, also die Verschränkung auf großen Raum- und Zeit-Skalen existiert. Dies zu akzeptieren, hätte nämlich bedeutet, dass man die gesamte Naturwissenschaft auf eine Grundlage hätte stellen müssen, die nicht im Geringsten der sicheren, zeitlich gebundenen Kausalitätswelt der klassischen Physik ähnlich sieht. Nach Cartos' Entdeckung, das heißt: eigentlich schon einige Jahre davor, konnte sich allerdings kein ernstzunehmender Wissenschaftler mehr auf den Boden der klassischen Physik stellen. Wir alle schwanken als Naturwissenschaftler heute in einem höchstkomplexen Schwingungsfeld aus Wahrscheinlichkeiten, Messproblemen und absurden Phänomenen, die aus der Perspektive unserer Makro-Technologien eigentlich gar nicht existieren dürften.
Die Dekohärenztheorie nämlich war ein Betrug: Die Verschränkung der Quanten löst sich mit der Dekohärenz nicht einfach auf, sondern wird bloß in das Chaos eines komplexen Systems überführt. Man tat so, als wenn die Wahrscheinlichkeitsrechnung garantieren würde, dass in einem unglaublich großen und schnellen Chaos alle interessanten Phänomene der Quantenphysik in einem uninteressanten Durchschnittsgemisch untergehen. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass wir uns mit den Quantenphänomenen auf einer Größenebene befinden, die um den Faktor 10 99kleiner ist als ein Kubikzentimeter und sich mit der Geschwindigkeit der Planck-Zeit verändert. Und dies auch nur unter den theoretischen Voraussetzungen der veralteten Schleifenquantengravitations-Theorie, die nicht einmal halb so viele Dimensionen theoretisiert wie unsere heutige Standard-Theorie, der 37-dimensionale Standard-Quanten-Raum. Da man für einige der 37 Dimensionen überhaupt keine Bestimmung der Ausdehnung von Objekten empirisch nachweisen kann, ließe sich der Faktor 10 99nämlich mit einem unendlich großen Faktor multiplizieren, präziser sogar mit mehreren unendlich großen Faktoren. Wenn wir ehrlich sind, können wir eigentlich nur sagen, dass die Komplexität des Mikrokosmos unsere theoretischen Fähigkeiten bei Weitem übersteigt. Es gibt eine große Reihe von Indizien, die uns dazu zwingen werden, auch die Theorie des 37-dimensionalen Standard-Quanten-Raums zu erweitern. Im Gespräch sind im Prinzip beliebig viele Dimensionen. Wir gehen heute eigentlich nur deshalb von diesem Standard-Raum aus, weil unsere mathematischen Fähigkeiten sich in diesem theoretischen Raum am besten bewähren, das heißt, dass wir am ehesten in der Lage sind, experimentelle Messungen mathematisch zu erklären. In einem strengen Sinne jedoch können wir gar nichts erklären und stehen vielen Phänomenen in der Tat überaus ratlos gegenüber.
Читать дальше