Die meiste Zeit während seiner Antwort hatte er Augenkontakt mit Ms. Magahenga gehalten. Ihre Augen faszinierten ihn sofort. Sie hatte so gute Ergebnisse wie Smith und stellte gleich in der Begrüßungsvorlesung interessante philosophisch-spirituelle Fragen mit einem guten Verständnis für die eigentlichen Knackpunkte der Forschung. Sehr vielversprechend war dieses Mädchen. Wer weiß, welche Fähigkeiten sie im Institut würde entfalten können. Ein anderer Finger ging hoch. Bell musste aufpassen, dass sich sein Vortrag nicht in eine offene Diskussionsrunde verwandelte. Es gab Zeitpläne. Er brauchte Zeit außer der Reihe, um die weiteren Schritte für den Umgang mit den Ergebnissen von Team Delta in Gang zu bringen. Und sein Terminkalender ließ ihm wenig Luft. Auch die Lebenszeit der Studenten wurde einem strengen Regiment unterworfen, an das sie sich zudem erst einmal gewöhnen mussten. Bell war sich seiner Vorbildfunktion bewusst: Gleich den Zeithorizont für den ersten Vortrag zu sprengen, würde unter Umständen einer Disziplinlosigkeit Tür und Tor öffnen, die er sich nicht wünschte.
„Stehen auch Sie bitte auf, wenn Sie etwas sagen möchten. Allerdings möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich einen Vortrag halte. Die Regeln der akademischen Höflichkeit sehen eigentlich vor, einen Vortragenden nicht zu unterbrechen, sondern etwaige Fragen am Ende des Vortrags zu diskutieren. Sofern noch Zeit dafür ist. Ich werde diesen Redebeitrag noch zulassen. Haben Sie aber bitte Verständnis dafür, dass ich danach mit meinem Vortrag fortfahren werde. Sie beginnen erst mit Ihrem Studium, es wird noch sehr viel Zeit für Diskussionen geben. Bitte.“
Nach den ersten Silben des Studenten konnte sich Bell auf dem Vorlesungspad darüber orientieren, um wen es sich handelte: Curt Lagrange, ein Bürger Qualimbas, den Bell allerdings nicht persönlich kannte. Irgendetwas dämmerte ihm beim Namen Lagrange, aber Bell kam nicht darauf. Curt war bereits 22 und hatte offenbar seit Jahren erfolglos versucht, am Institut angenommen zu werden. Er gehörte zu den acht Studenten, die sowohl im IQ- als auch in den Aufnahme-Tests die Hürden gerissen hatten, sein IQ lag dieses Jahr bei 137, in den Aufnahme-Tests hatte er nur 39,4 Prozent der möglichen Punkte erreicht. In den vergangenen Jahren waren seine Ergebnisse noch bescheidener gewesen, beim ersten Versuch vor acht Jahren hatte sein IQ bei 121 gelegen. Ganz offensichtlich hatte seine Familie ein erhebliches Interesse, ihn am Institut einzuschleusen. Er war sicherlich seit Jahren von Privatlehrern unterrichtet worden und hatte die besten Medikamente erhalten, die zur Leistungssteigerung der kognitiven Fähigkeiten auf dem Markt waren. Bell kannte den unnachgiebigen, stolzen Ehrgeiz von Familien aus Qualimba aus persönlicher Erfahrung. Curt hätte mit seinen geistigen Fähigkeiten und insbesondere mit den finanziellen Mitteln seiner Familie überall Karriere machen können. Er war überdurchschnittlich begabt, nur leider nicht gemessen an den Verhältnissen in Bells Institut. Es musste politische Gründe geben, warum er am Institut war. Bell merkte sich, dass er die Sitzung der Kommission für die Festlegung der Zulassungsvoraussetzung dafür nutzen sollte, um Näheres herauszufinden. Irgendwer in der Kommission musste Curt protegieren.
„Verzeihen Sie, Professor. Ich dachte, dies sei ein medizinisches Institut. Es geht doch darum, Medikamente gegen die Geißeln der Menschheit zu entwickeln. Insbesondere gegen die Geißel der depressiven Apathie, die die Menschheit niederstreckt. Es kann hier doch nicht darum gehen, sich schöne Gedanken über den Willen des Universums zu machen. Ihre Ausführungen klingen ja fast so, als wäre die beste Medizin, dass wir uns an den Händen fassen und das Universum darum bitten, doch ein bisschen lieber zu uns zu sein. In meiner Familie und meinem Freundeskreis sind eine Reihe von Leuten nur noch ein Schatten ihrer selbst, apathisch, emotions- und antriebslos verbringen sie ihr Leben im Bett. Obgleich sie früher Beachtliches geleistet haben. Dagegen müssen wir doch endlich etwas unternehmen. Oder nicht?“
Das war eine Ansage an Bell. Niemand außer eines Bürgers aus Qualimba würde sich wohl überhaupt trauen, Bell solche dreisten Worte an den Kopf zu werfen. Insbesondere, weil die Ergebnisse der IQ- und Aufnahme-Tests den Studenten bereits mitgeteilt worden waren. Curt wusste, dass er intellektuell auf wackligen Beinen stand und vielleicht nicht länger als ein paar Monate am Institut verbringen würde. Aber was genau sollte das? Curt wollte ihm auffallen und markierte den Rebellen aus Altruismus. Nicht auszuschließen, dass er wirklich an der Depression seiner Lieben litt und daher auf schnell wirkende Ergebnisse der Institutsforschung pochte. Bell wusste, dass es in Qualimba Leute gab, die ihm unterstellten, er würde lieber mit seinen Instrumenten spielen als etwas Reelles gegen das weltweite Sinken der Arbeitsproduktivität zu unternehmen. Und es gab auch in Qualimba Leute, die von Depression und anderen Erkrankungen gebeutelt waren. Nicht viele, aber es gab sie. In ihrer Selbstherrlichkeit folgerten viele Qualimbaner aus ihrer eigenen Ungeduld, dass Bell nicht konzentriert genug an Lösungen arbeitete. Dabei hatten die meisten von ihnen nicht mal im Ansatz ein Verständnis für die außerordentliche Komplexität der modernen Physik. Curts Augen hatten ihn herausfordernd angefunkelt, sein ganzes Auftreten war das eines Mitglieds der oberen Zehntausend. Allein seine Kleidung hatte vermutlich mehr gekostet als der Bau der Arche, in dem sie sich befanden. Curt erinnerte Bell daran, dass auch er in der ganzen Machtherrlichkeit seines Instituts nicht unverwundbar war. Aber er war es gewohnt, seine Worte diplomatisch zu wählen.
„Vielen Dank für Ihre Anregung, Mr. Lagrange. Bitte setzen Sie sich wieder. Sie haben Recht: Dies ist ein medizinisches Institut. Wir verfolgen das oberste Ziel, kranken Menschen Linderung zu verschaffen. Oder besser noch: Sie zu heilen. Sie werden sicherlich wissen, dass dieses Institut in den vergangenen zwei Dekaden die größte Anzahl von medizinischen Wirkstoffen auf den Markt gebracht hat, die von einer einzelnen Einrichtung in der Welt entwickelt wurden. Und Sie haben auch Recht mit Ihrer Ungeduld: Trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Medizin, stehen wir insbesondere der weltweiten Zunahme der Depression ziemlich hilflos gegenüber. Genau das ist aber die entscheidende Ursache, warum wir uns mit Grundlagenforschung beschäftigen. Ohne ein tieferes Verständnis für die grundlegenden physiologischen Prozesse können wir keine Medikamente entwickeln. Und die Fragen von Mrs. Magahenga sind insofern von schillernder Brillianz gewesen als sie uns mit den grundlegenden Gewissheiten unserer Wissenschaft konfrontieren: Wir existieren als eine Einheit mit unserer Umgebung. Und gleichwohl sind wir nur Teile in dieser Einheit. Dies ist eine unhintergehbare Voraussetzung aller positiven Erkenntnisse, über die wir verfügen. Es ist eine physiologisch Tatsache. Und daher ist es wichtig, dass wir darüber auch sprechen. Ihre polemische Bemerkung, dass der Weisheit letzter Schluss ja nicht sein könne, dass wir uns an den Händen fassen und zum Universum beten, hat selbstverständlich ihre Wahrheit. Sie werden feststellen, dass hier am Institut hartnäckig und fieberhaft gearbeitet wird und auch sie selbst werden wenig Zeit fürs Händchenhalten haben. Wenn Sie sich aber beispielsweise mit dem Magos-Theorem beschäftigen und all dem, was an diesem Theorem dranhängt, dann könnten Sie mit durchaus guten Gründen, wenn auch selbstverständlich nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus guten Gründen, auf den Vorschlag verfallen, dass die Menschheit sich doch einmal die Zeit nehmen sollte, sich an den Händen zu fassen und zum Universum zu beten, vielleicht für etwas so Unspezifisches wie die Ausschüttung von mehr Liebe.“
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