„So viel wir unterdessen von den Funktionsweisen der gesamten Welt im Allgemeinen und unseres menschlichen Organismus sowie seiner neuronalen Netze im Besonderen verstehen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verstehen, so ist es uns doch im Kern unmöglich zu sagen, auf welche Weise sich der Fortschritt der menschlichen Erkenntnis organisiert. Es gibt dazu viele mehr oder weniger gut empirisch begründete Theorien. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann man dies oder jenes für den eigentlichen Grund von Erkenntnissen halten. Im Gesamtbild, das wir von der Wirklichkeit haben, bleiben all diese Theorien aber genauso unbefriedigend wie die ganz einfache, aber auch völlig abstrakte Antwort, dass unsere Erkenntnisse ihrerseits eben ein durchlaufender Prozess eines Teils der Wellenfunktion des gesamten Universums sind. Meine Hypothese, die ich Ihnen eben zu skizzieren versucht habe, wird von einer Intuition beseelt: Vielleicht lernt der menschliche Geist vor allem durch die quantenphysikalische Verschränkung mit den Objekten seiner Aufmerksamkeit. Wenn Sie sich also meditierend in den phänomenalen Reichtum der Welt versenken, mögen Sie langfristig vielleicht zu weitgehenderen Erkenntnissen vordringen als durch das reine, vorstellungslose Studium der in mathematischen Struktursprachen formulierten Theorien und durch die Durchführung von Experimenten. Vielleicht, so wäre meine Hoffnung, ist es auf diese Weise sogar möglich, alle Beschränktheit des Wissens zu überwinden und doch als bloßer intellektueller Teilbereich des Universums dieses in seiner Gesamtheit zu erkennen. Aber das ist selbstverständlich ein sehr spekulativer Gedanke, den viele Naturwissenschaftler schon deshalb ablehnen, weil seine Unmöglichkeit bewiesen ist.“
Bell wusste, dass er sich in guter akademischer Gesellschaft befand, wenn er seinen Studenten die Achtung von Kreativität, Intuition und spekulativer Kontemplation anempfahl. Ebenso gut wusste er aber auch, dass in der scientific community letztlich nur zählte, was durch die Einheit von Argumentation und Experiment bewiesen war. Ein Finger erhob sich im Auditorium. Bell war neugierig: „Wenn Sie etwas sagen möchten, so stehen Sie bitte auf, damit alle Sie besser verstehen können.“
Eine junge Inderin erhob sich und stellte Ihre Frage. Das Stimmerkennungs-System analysierte ihre Stimmfrequenzen in Millisekunden und das Vorlesungspad zeigte Bell an, dass es sich um die Musterschülerin handelte, von der Mike berichtet hatte, Qua Buratila Magahenga. Sie sprach in fast akzentfreiem Englisch: „Verehrter Professor Bell, verstehe ich Sie richtig: Wollen Sie sagen, dass das Universum von sich aus möchte, dass wir es verstehen? Spricht Ihrer Auffassung nach jeder Stein und jeder Schmetterling seit Jahrtausenden zu uns, damit wir irgendwann in der Lage sein werden, mit einem göttlichen Bewusstsein von der Welt dieser Welt zu Diensten zu sein? Glauben Sie, dass die Evolution des menschlichen Bewusstseins ein Resultat des Willens des Universums ist?“ Das Mädchen hatte bescheiden und zugleich selbstbewusst gesprochen. Ihre Fragen waren interessant, aber zu sehr von spirituellen Vorstellungen geprägt. Konnte man dem Universum einen Willen unterstellen? Was in der modernen Geschichte der Menschheit könnte wohl darauf hinweisen, dass die Menschen sich in den Dienst ihrer Welt stellen würden und nicht, wie üblich, ihre Welt in den Dienst ihrer Bedürfnisse? Bell musste einen Moment überlegen, wie er dem offenbar größten intellektuellen Juwel im neuen Jahrgang entgegentreten wollte.
„Vielen Dank für Ihre interessanten Fragen, Ms. Magahenga. Setzen Sie sich bitte wieder. Aus der Tatsache, dass wir uns um Wissen bemühen und es in gewissen Grenzen auch erreicht haben, zu folgern, dass das Universum genau das von uns erwartet, ist eine interessante Vorstellung. Sie werden hoffentlich verstehen, dass es für einen naturwissenschaftlichen Professor auch nach Cartos' Revolution schwer möglich ist, dem Universum einen Willen und einen Zweck zu unterstellen. Ich denke, dass Sie den Sinn meiner Ausführungen gut verstanden haben, aber über das Ziel etwas hinausschießen. Ich habe gewisse Intuitionen und Vermutungen. Und ich weiß, dass es im Rahmen unserer besten Theorien zumindest bislang nicht unmöglich ist, dem Universum eine eigene Vernunft zu unterstellen, die aber sicherlich sehr von der verschieden wäre, die wir als Menschen haben. Angesichts der großen Probleme, von denen die heutige Menschheit erschüttert wird, könnte man genauso gut vermuten, dass das Universum uns bloß einen fürchterlichen Streich spielen möchte. Das, was man einst blinden Naturzusammenhang nannte, schlägt jedenfalls unter anderem Ihre und meine Augen auf. Wohnt den Menschen eine Vernunft inne, so auch der Natur, denn die Menschen sind ein Teil der Natur. Ob deshalb die Natur als Ganze etwas Vernünftiges ist, das einen erkennbaren Willen hat, lässt sich hingegen nur spekulativ beantworten. Also mit großen Fragezeichen. Sie wissen sicherlich, dass die spirituellen Bedürfnisse der Menschen eine solche Gesamtvernunft häufig und in sehr vielen verschiedenen Varianten unterstellt haben. Im allgemeinen wird sie einfach Gott genannt. Was an Ihren Fragen allerdings mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewiesen ist, ist der Evolutionsbegriff, den sie verwendet haben. Schon in der Darwinschen Vorstellung vom survival of the fittest spielt die Umgebung der Lebewesen für die evolutionäre Auslese eine prägnante Rolle. Dadurch, dass wir heute die Mutationsprozesse auf einer quantenphysikalischen Ebene zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verstehen, können wir in der Tat sagen, dass die Evolution der Menschen und damit auch des menschlichen Geistes ein Prozess innerhalb des Gesamtgeschehens des Universums darstellt. Letztlich folgt das einfach aus unserer Vorstellung, dass alles in der Natur untrennbar miteinander verwoben ist, es eben nur eine einzige Wellenfunktion des Universums gibt. Stein und Schmetterling haben ihren Anteil an der Evolutionsgeschichte der Menschen, genauso wie die vielen Facetten von Strahlung, die uns aus den Tiefen des Universums erreichen und verändern. Man kann also zumindest sagen, dass die Evolution der Menschen ein Resultat des Gesamtuniversums ist, wenn man so will. Wie gesagt: Ich möchte mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen und von einem Willen des Universums sprechen. Sie werden jedoch im Rahmen Ihres Studiums feststellen, dass es durchaus eine Reihe von Forschern gibt, die einen solchen Willen unterstellen. Es gibt Versuche, ihn zu beweisen, die jedoch einen skeptischen Kenner der Materie nicht überzeugen können. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nur nebenbei noch erwähnen, dass es ein interessantes Detail der Geschichte der Naturwissenschaften ist, dass der französische Evolutionstheoretiker Lamarck Anfang des 19. Jahrhunderts eine Evolutionstheorie formulierte, die durch die Darwinsche Evolutionstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziemlich schnell und ziemlich gründlich bei der scientific community in Ungnade fiel. Nur wenige Wissenschaftler hielten über fast zwei Jahrhunderte hinweg zumindest die Möglichkeit offen, dass Lamarck vielleicht doch gegen Darwin Recht behalten könnte. Während Darwin den Grund für genetische Mutationen in blinden Naturprozessen sah und das Schwergewicht seiner Theorie vor allem auf die natürliche Auslese durch die Bewährung an Umweltbedingungen legte, vermutete Lamarck, dass die grundsätzliche Möglichkeit dafür besteht, dass Erfahrungen, dass das Bewusstsein, ja dass vielleicht sogar die Vernunft der Eltern einen Einfluss auf die Art und Weise der Mutationen hat, mit denen sich der Kinderorganismus vom Elternorganismus unterscheidet. Lamarcks geradezu klassisch gewordenes Bild dafür ist die Vorstellung, dass Giraffen deshalb lange Hälse haben, weil in einer langen Abfolge von Generationen das Bedürfnis der Giraffen nach den grünen Blättern in den Baumwipfeln, an die kein Huftier herankommen konnte, sich derart im Mutationsprozess niedergeschlagen hat, dass die Giraffen die langen Hälse bekamen, die wir heute an ihnen bestaunen können. Seit gut 35 Jahren, nämlich nur einige Jahre nach Cartos' Wissenschaftsrevolution, wissen wir, das heißt wissen wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass Lamarck sich den Prozess vielleicht zu simpel vorgestellt hat, aber durchaus nicht falsch lag. Tatsächlich können wir einen gewissen Einfluss unseres Denkens auf die Biologie unserer Nachfahren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nachweisen. Ich erzähle Ihnen dies nur, um Ihre kritische Wahrnehmung sowohl gegenüber der Geschichte der Wissenschaft als auch insbesondere gegenüber dem Mainstream der scientific community zu schärfen: Nur, weil eine bestimmte Theorie als bewiesen gilt und eine andere als widerlegt, heißt das unter den Bedingungen eines unvollständigen Wissens niemals, dass dem tatsächlich so ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich diesen grundlegend kritischen Gedanken gegen alle Behauptungen, die als positives Wissen auftreten, gut merken würden. Ich danke Ihnen in jedem Fall für die inspirierende Phantasie Ihrer Fragen, Ms. Magahenga.“
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