Nun, man ging also mit der Dekohärenztheorie davon aus, dass das Chaos großer Systeme die Verschränkung statistisch nivellierte. Stellen Sie sich vielleicht zur Veranschaulichung vor, dass unser altmodisches Buch auf dem Schreibtisch unter einen massiven Beschuss mit einer unvorstellbar großen Zahl von Maschinenpistolen gerät. Die Verschränktheit der Buchseiten würde sich in einem solchen Fall sehr schnell auflösen. Wobei ich noch einmal betone, dass ein großes System in diesem Zusammenhang eben schon so etwas Kleines wie ein recht einfaches Molekül meint. In Wirklichkeit aber ist die Verschränkung eine Tatsache, die das Chaos beliebig großer Systeme durchherrscht. Aus heutiger Sicht ist die Erklärung der Dekohärenz-Phänomene ein viel größeres Problem als die Grundtatsache einer allgegenwärtigen und alles durchdringenden Verschränktheit von allem mit allem. Die Verschränktheit großer Systeme produziert lokale Dekohärenzphänomene. Im eigentlichen Sinne glauben wir heute, dass es keine Dekohärenz gibt, sondern dass Dekohärenzphänomene selber eine Wirkung der vielschichtigen Verschränktheit des einen Gegenstandes sind, von dem auszugehen uns noch sinnvoll erscheint: der Wellenfunktion des Universums.
Wenn wir uns das anhand des Buchbeispiels veranschaulichen wollen, so könnten wir unter der Voraussetzung, das unser Buch gleichbedeutend mit dem gesamten Universum ist, vielleicht Folgendes sagen: Löst sich eine Seite des Buches aus der Bindung und damit aus der Verschränktheit, so haben wir die Ursache dafür in der Verschränktheit der Buchseiten selbst zu suchen. Nun, das Beispiel stößt an offensichtliche Grenzen. Grenzen, die uns aber auch in unseren besten mathematischen Konzepten aufgezeigt werden: Wie sollen wir uns vorstellen, dass die Verschränktheit selbst so etwas wie eine relative Unverschränktheit produziert?“
Bell hatte noch eine Viertelstunde und war noch nicht einmal bei Cartos angelangt. Es machte ihm keine Freude, diese Dinge einfach nur herunterzurattern. In den nächsten Jahren würde er doch abweisender mit Zwischenfragen umgehen müssen. Außerdem wurde ihm klar, dass seine Bemerkungen zum Leben auf dem Campus von Jahr zu Jahr ausführlicher geworden waren. Er musste seinen Eröffnungsvortrag wohl von Grund auf überdenken. Er fuhr in etwas geruhsamerem Ton fort:
„Nun, ich hoffe, ich habe Ihnen damit zumindest eine vage Vorstellung für die Probleme gegeben, mit denen wir uns herumzuschlagen haben, wenn wir das Universum und damit irgendetwas im eigentlichen Sinne verstehen wollen. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, weise ich Sie nur ganz allgemein darauf hin, dass die Entdeckung der Existenz von Tachyonen, also überlichtschneller Teilchen im Jahr 2023 ein entscheidendes Ereignis für die Wissenschaft war. Sie ermöglichte den Bau von Versuchsanordnungen, die Quantenphänomene auch auf größeren Längen- und Zeitskalen messen, ohne dafür ganze Kontinente mit Elektronenbeschleunigern untertunneln zu müssen. Heute können wir mit den neuesten Screening-Geräten Räume von etwa zehn Kubikmetern auf der Ebene von Planck-Länge und Planck-Zeit kartographieren, wobei diese dynamischen Karten immerhin mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,79 Prozent präzise sind. Ein herausragender Wert. Dies ist ein enormer technologischer Fortschritt, den zu meiner Studienzeit niemand für möglich gehalten hätte. Cartos publizierte 2031 seine bahnbrechenden Ergebnisse auf der Grundlage wesentlich kleinerer und unschärferer Karten. Dennoch bewies er damit, dass es im Spalt zwischen den Nervenzellen bei fließender Spannung eine Polarisation von riesigen Quantenfeldern gibt, deren Verschränktheiten so geformt sind, dass sie das Polarisations-Chaos der umgebenden Materie auf weite Strecken durchdringen können, ohne dabei wesentliche Teile ihre ursprünglichen Gestalt einzubüßen. Das ist sehr grob gesprochen und gilt selbstverständlich präzise nur aus Sicht der schwer zu verstehenden Mathematik der Quantenfrequenzmodulationsfelder, mit der Sie noch Ihre wahre Freude haben werden. Und ich denke, dass ich genug dazu gesagt habe, wie vage solche Begriffe wie 'präzise' oder 'Beweis' aus unserer heutigen Perspektive im Vergleich zu dem strengen Sinn dieser Begriffe vor noch 50 Jahren sind.
Tatsächlich ändert sich die Gestalt der Quantenformationen permanent unter dem Druck der gesamten Wellenfunktion des Universums, also unter dem Druck des umgebenden Chaos, wenn man denn noch von Chaos in diesem Zusammenhang sprechen möchte. Dies geschieht aber auf eine Weise, die tatsächlich die Übertragung spezifischer Informationen und Manipulationen über weite Distanzen ohne jeglichen Zeitverlust ermöglicht oder eben sogar gegen die Richtung der Zeit ermöglicht. Auch heute, fast 40 Jahre nach dieser Entdeckung, können wir kaum mit Sicherheit sagen, wie das möglich ist. Aber es gibt ausreichend mathematische Modelle, um diesen Umstand zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit theoretisch zu modellieren.
Cartos hatte konkret nachgewiesen, dass in einem Mäusegehirn bestimmte Areale von Nervenzellen mit anderen Arealen durch die Übertragung von Quantenfrequenzmodulationsfeldern kommunizieren. Deshalb sprach er von einer Quantenreflexion. Damit war Cartos der erste, der die Biologie auf eine ganz neue Ebene herunterführte. Vor Cartos hatte sich die Biologie kaum für Quantenphysik interessiert, neuronale Netze kommunizierten nur auf der Ebene von Synapsen und den messbaren elektrischen Flüssen zwischen den Synapsen. Heute sind biologische Phänomene nur noch spezifische Formationen in der Welt der Quantenphysik. Eine Synapse oder auch noch einfachere Körperzellen werden somit zu gigantischen Wellenfunktionen. Dank Cartos sehen wir wesentlich tiefer in die Wirklichkeit lebender Wesen.
Sein Fund wurde vielfältig bestätigt. Bemerkenswert sind zum Beispiel die Ergebnisse einer Forschergruppe um Professor Bash, die den Nachweis erbrachten, dass die Spannung in den Muskeln ebenfalls Quantenfrequenzmuster generieren, die über weite Strecken stabil bleiben. Unser Institut unterhält eine große Abteilung für die quantentheoretische Erforschung des Tanzes. Über 300 professionelle Tänzer verdienen ihr Geld damit, während des Tanzens von uns gescreent zu werden. Die Phänomene, die im Gehirn beim Hören von Musik ausgelöst werden, sind schon für sich erstaunlich und ein sehr weites Feld der Forschung. Der Tanz allerdings ist noch um vieles faszinierender. Quantenschwinungen aus den Muskeln kommunizieren mit neuronalen Netzen, aber auch mit der unbelebten Natur und sogar mit kosmologischen Phänomenen, deren Wirklichkeit uns fast gänzlich rätselhaft ist. Wir können heute beispielsweise sehr präzise rekonstruieren, wieso zum Beispiel die Schamanen früherer Kulturen in Trockenzeiten Regentänze ausübten. Durch tanzende Bewegungen fokussierte Quantenschwingungen können zumindest mit einer gewissen, wenn auch eher geringen Wahrscheinlichkeit die Feuchtigkeit aus der Atmosphäre tatsächlich herauskitzeln, wenn man so sagen darf. Ich rate Ihnen dringend dazu, die Erforschung des Tanzes möglichst frühzeitig in Ihrem Studium zu beachten. Ich habe die Intuition, dass die nächsten Durchbrüche der Forschung auf diesem Feld stattfinden werden.
Nun, nur kurz nach Cartos' Entdeckung wurde klar, dass es Quantenkommunikationen quasi überall im Universum und zwischen quasi allem gibt, auch zum Beispiel zwischen den Nervenzellen verschiedener Individuen, also im Moment mit einer gewissen Sicherheit zwischen Nervenzellen in meinem Gehirn und Ihren Gehirnen. Die absonderliche und kaum ernst genommene Disziplin der Parapsychologie wurde auf einen naturwissenschaftlichen Boden gestellt. Wir können messen, dass bestimmte Menschen tatsächlich früher übersinnlich genannte Fähigkeiten haben. Sie können Quantenfrequenzmuster quasi über unbegrenzte Distanzen so deutlich fokussieren, dass sie bewusst Effekte erzielen. Telepathie und Telekinese sind zwar überaus seltene Phänomene, aber unterdessen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als naturwissenschaftliches Faktum anerkannt.
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