Eugenie Götting - Kaviar zum Frühstück

Oft klingt die Behauptung: "Reisen erweitert deinen Horizont" oder "Man kann die Welt plötzlich mit anderen Augen sehen" viel zu banal, abstrakt oder aus der Luft herausgegriffen. Doch wenn man selbst ganz neue Erfahrungen macht, irgendetwas neu für sich entdeckt, dann erst merkt man den tieferen Sinn dieser Worte. Es ist wirklich erstaunlich, wie solche Begebenheiten den Raum sprengen, in dem wir gewohnt sind zu denken. Nun erscheinen eine asphaltierte Straße oder aber die gewohnten Stadteile nicht mehr als selbstverständlich. Dann schaut man nicht nur, sondern verarbeitet meist gezielt aber doch unbewusst die neue Information, welche wir bekommen. Ich merkte, dass ich mit größerer Aufmerksamkeit durch die Stadt Alexandrovsk gelaufen bin. Ich war neugierig, wie ein kleines Kind, welches erst sich umschauen muss, um zu verstehen, wo es eigentlich ist. Schon deswegen ist es lohnenswert mal aus einer so großen Stadt herauszufahren und die Luft der Provinzen zu schnuppern. Dies ist aber selbstverständlich nicht der einzige Grund aus den eigenen vier Wänden herauszukommen.

Ganz am Anfang einer Erzählung habe ich erwähnt, dass ich kein Fernsehen und kein Internet in meinem Zimmer hatte. Und ich muss sagen, das bewirkt wahre Wunder. Ich lese hier wirklich sehr viel. Ein Buch lese ich meistens innerhalb weniger Tage. Das liegt unter anderem daran, dass man in der Metro bestens lesen kann. Auch diesen Abend las ich in der Marinina und habe ein paar interessante Passagen für mich entdeckt. Dort war es noch mal betont worden, wie wichtig es eigentlich ist, ein Ziel vor Augen zu haben und dieses auch anzustreben. Sehr treffend, fand ich, denn erst vor einigen Tagen haben wir ähnliches in der Vorlesung analysiert. Demzufolge haben sogar diejenigen, die ein bestimmtes Ziel verfolgen weniger Probleme oder sind weniger unzufrieden. Das kann man gut nachvollziehen, denn nur wenn man den übergeordneten Sinn seiner Taten sieht, lebt es sich leichter. Das Streben ist eben das, was uns bewegt irgendetwas zu tun und ist der Motor des Lebens. Es ist nicht nur eine Reaktion auf ein bestimmtes Impuls, sondern ein Übergeordnetes Ziel, welches es zu erreichen gilt. Meistens fließen in unsere Entscheidungen bestimmte Faktoren mit ein, wie zum Beispiel das Selbstverständnis, Verhaltensmuster, eine sogenannte bestimmte innere Grenze, welche wir nicht überschreiten werden. Besonders wichtig ist hierbei das Selbstverständnis bzw. wie wir uns selbst sehen. Damit meine ich, wie nehme ich mich selbst zum heutigen Zeitpunkt war und wie sehe ich meine Zukunft. Diesen Punkt finde ich besonders interessant. Denn es sagt wiederrum aus, dass wir so handeln, wie wir glauben wer wir sind oder zu sein scheinen. Deswegen ist es auch besonders sich positiv einzustellen.

Ich hätte nie gedacht wie viel Bedeutung dem Arbeiten in Gruppe beigemessen wird. Dies stellt hier meistens mehr als die Hälfte der Note dar. Es ist eine ungewöhnliche Herausforderung und Förderung der Teamfähigkeit zugleich. Früher, muss ich zugeben, fiel es mir etwas schwer gemeinsame Projekte zu bearbeiten. An unserer Uni bzw. an der Wirtschaftsfakultät war es durchaus möglich sein eigenes Süppchen zu kochen. Zwar hatte ich auch mit Freunden auch mal Lerngruppen organisiert, doch das war nicht so umfangreich, wie z.B. das Erstellen eines Business Plans und der Ausarbeitung eines innovativen Produkts.

Zum Ende des Semesters waren wir mit meiner Gruppe nur damit beschäftigt verschiedene Projekte zu bearbeiten und Präsentationen vorzubereiten. Man könnte auch sagen, dass es sowas wie Klausurvorbereitungsstress war. Allerdings waren wir auch von diesen nicht befreit.

Eine weitere Herausforderung war, dass es keine Manuskripte durch die Professoren bereitgestellt waren. Dadurch war man mehr oder weniger angeregt sich mit seinen Kommilitonen auszutauschen. Und das war auch gar nicht schwer. Denn alle nahmen uns, die Auslandsstudenten, als einen Teil ihrer Gruppe dar. Ich muss nämlich noch unbedingt erwähnen, dass es an der Lomonosov Universität üblich ist von der Immatrikulation an der ein und derselben Gruppe anzugehören. Das heißt, dass man den ein und denselben Stundenplan hat. Man besucht zusammen dieselben Vorlesungen, die gleichen Schwerpunkte. Denn man entscheidet sich von Anfang an z. B. den Schwerpunkt Management einzuschlagen. Dieser Studiengang, also alle immatrikulierten Studenten eines Jahrgangs, werden in verschiedene Gruppen eingeteilt, welche dann Seminare zu bestimmten Zeiten besuchen müssen. Durch diese Politik oder sagen wir mal Strategie verschwindet die Anonymität fast vollständig. Erstens weil es wenige Studenten immer in ein und derselben Gruppe sind und zweitens weil man für vier Jahre nun sich zusammen um den Bachelor bemühen.

Zu Hause, in Deutschland, hatte ich oft bereut, dass ich nicht so viel Zeit hatte. Ich wünschte mir etwas mehr Freizeit und Freiraum. Nur hier habe ich gemerkt, wie toll es ist einfach mal die Zeit zu genießen, die man zur seiner freien Verfügung hat.

Als ich eine Geburtstagskarte von meiner Mutti mit dieser Überschrift bekommen haben, hatte ich den wahren Sinn und Bedeutung dieses ganz einfachen, ja gar banalen Spruchs, nicht ganz nachvollziehen können.

„Irgendwie kann die Zeit nicht das wertvollste sein, was der Mensch besitzt.“, dachte ich in dem Augenblick. Erst etwas später wurde mir bewusst was damit gemeint ist. Der Zeitmangel an sich ist bestimmt vielen in unserer hektischen Zeit ein bekanntes Phänomen. Man verfällt sehr leicht dem Alltagstrott und sieht nicht die wirklich wichtigen und schönen Dinge des Lebens. Dies wünschte ich mir in meinem Auslandsstudium zu ändern. Dies zu meistern ist mir ziemlich gut gelungen. Dafür musste ich nur meine Einstellung und Denkweise ein ganz kleines bisschen ändern. Also, habe ich meinen Tagesablauf strukturiert und so blieb mir sehr viel Zeit meine kurzfristige Heimatstadt näher kennenzulernen. Noch vor der Abreise hatte ich mir vorgenommen, so viel wie möglich über mich selbst und meine Herkunft zu erfahren. Außerdem wollte ich mein Potential und meine Qualitäten noch mehr ausbauen und weiterentwickeln. All das konnte ich nur jetzt, während ich die Zeit im Ausland verbrachte, nun in die Tat umsetzten. Erst hier habe ich auch gelernt, die Zeit zu schätzen und zu nutzen, ohne es im Nachhinein zu bereuen. Und all diese Erfahrungen haben ihre Zeit in Anspruch genommen.

Es war Freitags und da ich sogar Samstags Vorlesung habe in Organizational Behavior, haben wir mit unserer Seminargruppe vorgenommen uns gemütlich ins Cafe zu setzen und Mafia zu spielen. Ich wusste auch erst gar nicht, was es für ein Spiel ist und kannte die Regeln überhaupt nicht. Doch mir wurde versichert, dass es ziemlich leicht ist und auch spannend und lustig. Also von allem was dabei. Ich habe es auch wirklich nicht bereut, es mal kennengelernt zu haben. Um es mal kurz zu erläutern werde ich die wenigen Regeln mal kurz ansprechen. Also, es ist so, einer aus der Gruppe ist Arzt. Der Rest wird in zwei Gruppen aufgeteilt, entweder gehört er zu Mafia oder aber ist man der Bewohner dieser Stadt. Mafia herrscht nachts, friedlichen Bewohner tagsüber. Ach so, ich hab noch ganz vergessen, einer ist der Moderator und sagt an, ob Tag oder Nacht ist. Nachts treffen sich die Mafiosi und beschließen einen der Bewohner zu töten. Und tagsüber beschließen die Bewohner einen der Bosse umzulegen. Klingt vielleicht brutal ist aber echt witzig.

Also war ich das erste Mal auf der Seite der Guten. Doch irgendwie waren zu viele unbekannte Gesichter und Tisch oder möglicherweise war ich etwas aufgeregt. Je mehr ich versuchte die Gruppe zu überzeugen, desto mehr schien ich mich reinzureiten und als Mafiosi zu outen. Wobei ist einer der Guten war! Das war so ärgerlich! Keiner glaubte mir! Im Gegenteil, je öfter ich sagte, ich bin einer der Bewohner, kam sofort das Gegenargument, dass es doch jeder sagen würde.