Von anderen dagegen bin ich selbst reichlich bestohlen worden. So gingen in meiner Schulzeit vier Uhren, sechs Paar Turnschuhe, 13 Füllfederhalter, zwei Federtaschen, neun Bücher, vier Portemonnaies und dutzende Lineale und Zeichenutensilien flöten. Das meiste sah ich dann irgendwann bei meinen Schulfreunden wieder, aber ich konnte ja nichts beweisen und Einzelstücke waren das auch nicht gewesen, sondern Dutzendware. Vati legte immer großen Wert darauf, sich so zu geben wie die Masse. Vielleicht lebten wir auch deshalb zeitlebens in einer kleinen Dreiraumwohnung, obwohl wir uns doch ganz locker hätten ein Reihenhaus leisten können, die Beamten kriegen da ja viele Vergünstigungen.
Meinen Schulfreunden wurde natürlich auch immer viel gestohlen, aber sie holten es sich doppelt und dreifach zurück. So kamen Cora auch sieben Füllfederhalter abhanden, dafür aber organisierte sie sich zwölf andere, richtig schöne Stücke waren dabei. Cora ging später in die Immobilienbranche und soll dort groß Karriere gemacht haben. Den Kontakt zu mir brach sie ganz fix ab.
Vati wollte dann, dass ich Finanzbeamtin werde, aber Mutti favorisierte den Beruf der Sängerin für mich, obwohl ich gar nicht musikalisch war. Ich entschied mich schließlich für eine Lehre im technischen Dienstleistungsbereich.
Schon in der Berufsausbildung schnitten mich meine Mitschüler, da ich nicht bereit war, unserem Ausbilder, Herrn Hörnig, das Tagebuch zu stehlen, das er in seiner Aktentasche trug. Auch als meine Mitstreiter aus Herrn Hörnigs Portemonnaie das Passfoto seiner Frau entwendeten und stattdessen ein Bild des deutschen Hausschweins hinein legten, war ich nicht mit von der Partie. Meine Mitschüler versuchten alles, um mich des Diebstahls zu überführen. Sie legten mir Geldscheine vor die Füße, Schokolade in die Tasche und Schmuck in die Jacke. Doch ich machte all das postwendend als mein Nicht-Eigentum öffentlich und fragte mit eindrucksvollen Aushängen überall nach dem wirklichen Besitzer. Irgendwann gaben sie schließlich genervt auf.
„Du bist nicht von dieser Welt“, riefen alle und auch, dass ich einmal ganz elendig enden würde. Jedenfalls hat man mich dann nach meiner Ausbildung in den Kundendienst, Abt. Reklamation, gesteckt.
Und dort sind mir schließlich ganz außerordentlich wichtige Dinge passiert. Ich lernte Norbert kennen, einen schüchternen, feinfühligen jungen Mann, mit dem ich mich sofort seelenverwandt fühlte.
„Norbert, du hast gestohlen!“, sagte ich ihm eines Tages mutig auf den Kopf zu. Er sah mich völlig fassungslos an und erwiderte verstört:
„Verzeihung! Aber ich habe noch niemals in meinem Leben gestohlen.“
Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.
„Mein Herz hast du gestohlen!“, sagte ich anschließend nahezu atemlos. Norbert sah mich glücklich an und hauchte zärtlich:
„Danke, ebenfalls!“
Das war der schönste Augenblick in meinem Leben, aber es wurde noch besser. Norbert und ich standen am Dienstleistungstresen und versuchten, eine Kundin zu beruhigen, die ihren defekten Müslischüttler gerade zum dritten Mal reklamierte. Sie schimpfte ununterbrochen, ließ uns nicht zu Wort kommen und rief schließlich:
„Sie Dumpfbacken, Sie stehlen mir meine wertvolle Zeit!“
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte und sah Norbert fassungslos an.
„Sie hat gesagt, wir stehlen ihr …“
Weiter konnte ich nicht sprechen, denn die Dame unterbrach mich wutschnaubend.
„Nicht nur die Zeit stehlen Sie mir, Sie rauben mir auch noch meine letzten Nerven!“
Mir wurde heiß und kalt zu gleich. Endlich! Ich hatte es wirklich noch geschafft! Wenn ich anderen schon kein Geld und keine Gegenstände stehlen konnte, dann wenigstens Zeit und Nerven. Und dafür wurde ich auch noch bezahlt! Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, der Kreis zu Vati schließt sich. Von da an erfasste mich das gute Gefühl, meine innere Mitte gefunden zu haben und von der Außenseiterposition zum typischen bundesdeutschen Bürger aufgestiegen zu sein.
Norbert stahl mir dann auch noch meine Unschuld und meine drei Kinder raubten mir die schöne Illusion, immer eine gute Mutter sein zu können. Endlich war alles perfekt und so wie bei allen anderen auch. Und das ist bis heute so geblieben! Norbert scheint ebenfalls glücklich zu sein und mag auch meine Eltern. Vati sammelt nun schon seit 15 Jahren Kassenbons, auf denen Toilettenpapier als gekauft gebongt ist. Nur Mutti hat sich wohl im Geheimen was Besseres als Schwiegersohn gewünscht, aber nachdem Norbert ein paar Mal ihre hohe Singstimme ausführlich gelobt hat, scheint sie sich mit meinem Mann abgefunden zu haben.
Und ich, ich wurde trotz meines Gendefektes und meiner schweren traumatischen Kindheit endlich ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft, auch wenn mir Diebstahl im direkten Sinne des Wortes bis heute kein dringendes Bedürfnis geworden ist. Aber da gibt es ja so viele wichtige Leute in unserem Land, von denen können mein Norbert und ich in dieser Sache noch richtig viel lernen!
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