Die letzten Worte von Sabine Maus gehen in ein tiefes Schluchzen über.
„Ich will keinen anderen Kundenberater als ihn, keiner ist besser! Zu keinem anderen habe ich Vertrauen!“, ruft sie tränenüberströmt.
Rechtsanwältin Undine Seif schüttelt fassungslos den Kopf, Dr. Fabian Pracht schenkt ihr ein mitleidiges Lächeln.
„Nun gut! Ich denke, das reicht der Richterschaft für einen Urteilsspruch“, sagt Richter Hochmuth.
Anwältin Seif schwenkt ihren Arm heftig nach oben und ruft hysterisch:
„Nein, nein, nein! Wo bleibe ich denn da? Ich hatte doch noch gar nicht die Gelegenheit, mich ausschweifend gegen die Darstellung von Dr. Pracht zu wehren, ihn auseinander zu nehmen und als schmierigen, arroganten Lügner zu überführen.“
„Das muss doch auch nicht sein!“, sagt Sabine Maus sanft und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Ich habe begriffen, dass es nicht richtig war, was ich getan habe. Ich habe meinen geliebten Versicherungsvertreter, den von mir so geschätzten Rudolf Übrig, genötigt und der Freiheit beraubt. Und ich bitte das Gericht, mir zu untersagen, einen geringeren Abstand zu Rudolf Übrig als 250 Meter einzuhalten, es sei denn, er will es selbst anders. Auch möchte ich eine Verhaltenstherapie, drei Wochen stationär, dann über längere Zeit ambulant in Wohnnähe. Und ich erkläre mich bereit, ein Schmerzensgeld an den von mir Geschundenen zu zahlen. Ich bin zu 1500 Euro bereit, weniger sollte es auf jeden Fall nicht sein. Ich muss das alles auch irgendwie mit meinem Gewissen vereinbaren und auf diese Weise könnte ich es.“
Anwältin Undine Seif sackt in sich zusammen und schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ein Windhauch den Gerichtssaal durchzieht. Anwalt Dr. Fabian Pracht nickt dagegen anerkennend.
„Nun, da haben wir die Beklagte wohl stark unterschätzt! Ich hätte auf weniger Schmerzensgeld geklagt, aber ein reines Gewissen hat natürlich absoluten Vorrang.“
Richter Hochmuth nickt ebenfalls zustimmend.
„Ja, das sind Angebote von Seiten der Beklagten, die durchaus real sind. Ich denke, dem kann ich bedenkenlos zustimmen. So machen wir’s!“
Wenig später verlassen die Anwälte und Sabine Maus den Gerichtssaal. Anwältin Undine Seif hält eine Hand an ihre linke Hüfte und zieht das rechte Bein leicht nach.
„Ist Ihnen nicht wohl, verehrte Kollegin?“, fragt Dr. Fabian Pracht ein wenig süffisant.
„Ihnen fehlen noch ein paar Hirnwendungen, um den Zusammenhang von Stress und damit verbundenen körperlichen Beschwerden erfassen zu können“, entgegnet Anwältin Undine Seif mit spitzer Stimme und wendet sich dann hasserfüllten Blickes ihrer Mandantin zu.
„Und was Sie, Frau Maus, hier abgeliefert haben, das ist doch das Allerletzte! Wie stehe ich denn jetzt da? Ich hätte meinen Gegner doch mit seiner eigenen Jauche überziehen können! Und was tun Sie? Sie brechen mit Ihrer schwächlichen, unemanzipierten Tut-mir-nix-Frauenmasche jegliche Spielregeln auf dem juristischen Parkett! Ich verbiete Ihnen hiermit, auch nur ein einziges Wort über diese Gerichtsverhandlung verlauten zu lassen, sonst kriegen sie von mir eine fette Klage wegen Berufsbehinderung, übelster Nachrede und Falschaussage an den Hals. Und dann, meine Liebe, dann können Sie mich nicht mit mickrigen 1500 Euro abspeisen.“
In diesem Augenblick jagt Rudolf Übel auf das Gerichtsgebäude zu.
„Da! Sehen Sie! Er kommt doch noch!“, kreischt Sabine Maus aufgedreht.
Rudolf Übrig bleibt wenige Schritte vor Sabine Maus stehen.
„Ich habe mir noch einmal alles haarscharf durch den Kopf gehen lassen, meine liebe Kundin!“, sagt er, völlig außer Atem. „Das Knebeln war nicht schlimm und das mit den Telefonanrufen und dem Verkleiden eigentlich ganz lustig. Und so schön sauber war es bei mir schon lange nicht mehr, also - ich könnte die ganze Sache vergessen.“
Sabine Maus macht einen Luftsprung und umarmt dann ihren zerbrechlichen Versicherungsvertreter.
„Wirklich? Ist das wirklich wahr?“
Rudolf Übrig nickt.
„Die meisten Kunden haben doch nur ein rein geschäftliches Interesse an meiner Person, die lassen sich von mir vollschwafeln und wollen dann einfach fix ihre Prämie loswerden. Aber das hier, das war schon richtiges Engagement für mich. Also, ich denke, ich lasse mich doch überreden, noch eine Spazierversicherung für Sie abzuschließen. Und dann können wir ja sehen, was noch so alles drin ist …“
Sabina Maus umfasst den schmächtigen Rudolf Übrig.
„Ich lade Sie zum Mittagessen ein, Sie können es gebrauchen. Wie ist das eigentlich versicherungsmäßig, wenn meine Kochplatte mal implodiert oder sagt man explodiert …?“
Dr. Fabian Pracht und Anwältin Undine Seif sehen, wie ihre beiden Mandanten kichernd über die Straße laufen.
„Hm!“, sagt Dr. Fabian Pracht, „dann könnten wir beide ja die beiden verklagen! Mich hat mein Mandant schließlich auch kräftig an der Nase herumgeführt.“
„Sie haben wohl die Unrechtsversicherung von unserer Frau Maus vergessen!“, sagt Anwältin Undine Seif schnippisch. „Und dass Ihr Mandant eine der besten hat, davon dürfen Sie auch ausgehen.“
Nachdenklich nickt Dr. Fabian Pracht.
„Ja, diese Versicherungsvertreter haben’s tatsächlich faustdick hinter den Ohren, dabei ist dieser Übrig doch so ein unscheinbarer dünner Hering. Vielleicht sollte ich mal ernsthaft über eine Umschulung nachdenken …“
Auf dem Gesicht von Anwältin Undine Seif macht sich ein überraschtes Lächeln breit.
„Ihr erster vernünftiger Gedanke und das Einzige, wofür ich Ihnen nicht allzu viel Schlechtes wünsche“, sagt die Anwältin und spürt erfreut, wie Hüft- und Bandscheibenschmerz urplötzlich ins Erträgliche übergehen.
Ich verstehe meinen Jungen nicht mehr
Die Ratlosigkeit von Eltern, deren Sohn so ganz
anders ist
„Nein, Mutti! Du kannst nicht schon wieder in die WG kommen, auf gar keinen Fall! Lisas vier Schwestern haben sich angemeldet, eine davon ist schwanger, also zusätzlich viereinhalb Leute! Und Alex' Großeltern wollen mit ihren drei Enkeln auch mal vorbeischauen. So viele Fußabtreter haben wir doch gar nicht im Vorderhaus Luisenstraße 44! Ich melde mich, wenn's wieder klappt. Also, bis dann und putz’ nicht so wenig!“
Ob es Ben Baff interessiert, wie schwer dieses kurze Telefonat die Seele seiner Mutter wieder erschüttert? Bärbel Baff weiß einfach nicht mehr weiter, sie ist mit ihrem Latein und den Nerven komplett am Ende. Ihr Junge, das ängstigt sie so stark, ist auffällig verhaltensgestört. Er benimmt sich nicht wie normale Mädchen und Jungen in seinem Alter. Andere 25-Jährige schlafen bis mittags, hausen in unaufgeräumten, verkeimten Zimmern und vögeln sich lustig durchs Leben. Ben aber ist das krasse Gegenteil - er steht stets gegen 7 Uhr 30 auf, macht seine Morgenübungen für Bizeps und Flachbauch, spült nach dem Frühstück sofort das Geschirr und fegt alle Krümel vom Boden. Auch sonst ist seine studentische Lebensweise ohne Fehl und Tadel. Und zu allem Übel, so muss Bärbel Baff schweren Herzens eingestehen, hat sich ihr Sohn auch noch mit Gleichgesinnten zusammengetan! Lisa und Alexander haben ebenfalls dieses untypische Verhalten. Mit Grauen erinnert sich Bärbel Baff an ihren letzten WG-Besuch vor vier Tagen. Nachdem sie ihre Schuhe vor der Eingangstür ausgezogen hatte, bürstete ihr Ben mehrmals kräftig über die Fußsohlen, ehe sie unter heftigstem Fußschütteln endlich in die Gästepantoffel schlüpfen durfte. Dann wies ihr Ben mit streng ausgestrecktem Arm den Weg zum Badezimmer, wo sie ein antibakterielles Vollbad mit Virenschutzschaum nehmen sollte. Dank ihrer verbal stark bildhaften Sprache konnte sie ihren Sohn und die Mitbewohner schließlich doch dazu bewegen, sich mit zweimal heiß und dreimal kalt gebürsteten Händen zufrieden zu geben. Kaum hatte Bärbel Baff dann das Badezimmer wieder verlassen, begann Lisa auch schon mit der Reinigung dieses Feuchtraumes, den sie zweimal intensiv durchwischte, um anschließend die Bodenfliesen gründlich vor- und nachzupolieren.
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