Als ich den Kopf in den Korridor stecke, kann ich niemand sehen. Offenbar gibt es noch einen zweiten Besucher. Und er heißt nicht Eugen Brandt. Der Hausherr hätte sich längst bemerkbar gemacht. Ich tippe auf einen zufällig vorbeigekommenen Einbrecher, der die Gelegenheit mit den offenen Türen nutzt. Und erneut höre ich Geräusche. Dieses Mal kann ich sie zuordnen. Sie kommen eindeutig aus der Küche. Ich greife nach meiner Beretta, entsichere sie und gehe vorsichtig, die Waffe in der ausgestreckten Rechten vor mich haltend, dem Geräusch nach. Die Küchentür steht weit offen. Ich erinnere mich, als ich die Wohnung betreten habe, ist dies nicht der Fall gewesen. Es wird immer offensichtlicher, jemand hält Ausschau nach geeignetem Diebesgut. Ich bin fest entschlossen, den Eindringling außer Gefecht zu setzen, um ihn Brandt in Form eines gut verschnürten Weihnachtspakets zu übergeben. Und obendrauf, gewissermaßen als Sahnehäubchen, lege ich den Geldkoffer mit den zwei Millionen. Das würde ihn zusätzlich zwingen, das Geld anzunehmen und den Vertrag zu unterschreiben. Wodurch ich wiederum meine Zwanzigtausend bekäme.
Als ich einen ersten Blick in die Küche werfe, zucke ich förmlich zurück als hätte ich mit bloßen Händen in ein geladenes Stromkabel gegriffen. Alles in und an mir bebt und zittert, sodass ich gezwungen bin, mich mit beiden Händen am Türrahmen festzuhalten. So etwas Furchtbares habe ich in meinem bisherigen Ermittlerleben noch nicht zu sehen bekommen. Mein erster Gedanke: Marowski, du bist in eine Russenfalle geraten! Verschwinde! Doch ich bin immer stolz darauf gewesen, kein Feigling zu sein! Selbst wenn es sich hier um eine Falle handeln sollte, ich kann nicht zurück. Ich atme mehrmals tief ein und aus, schließe ich kurz die Augen, danach betrete ich tapfer den Tatort.
Wo ich hinschaue: Überall Blut. Auf dem Fußboden, an den weißen Kacheln an der Spüle, dem Elektroherd, an den Beinen des Küchentischs, dem Kühlschrank, ja ein paar rote Spritzer haben es sogar bis zu den Fensterscheiben und dem Fensterbrett geschafft. Außerdem hängt ein schwerer süßlicher Geruch in der Luft. Und mittendrin liegt ein Mann auf dem Bauch, jeweils ein Arm und ein Bein angewinkelt, die beiden anderen Extremitäten weit von sich gestreckt, während seine erloschenen Augen starr auf die dunkelbraunen Terrakotta-Platten des Küchenbodens gerichtet sind. Gleichzeitig umschwirren ihn Fliegen über Fliegen und immer neue stoßen dazu.
Je länger ich auf das Opfer starre, umso gegenwärtiger wird mir, was hier passiert sein könnte. Folgend Ausgangssituation: Als der Täter den tödlichen Schuss abgab, stand er direkt hinter dem Opfer, der an der Kaffeemaschine herumhantierte, um zwei leeren Tassen mit Kaffee zu füllen. Verdammt, Opfer und Täter haben sich gekannt. Man lässt keinen Fremden in seine Wohnung und brüht ihm einen Kaffee. Plötzlich registriere ich etwas ganz Merkwürdiges. Es sind die vielen Verletzungen, die der Tote im Gesicht, am Hals und den Armen davongetragen hat und sicher sind sie auch an seinem Körper zu finden. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Der Tot alleine reichte dem Täter nicht, er hat mit blinder Wut auf sein Opfer eingeschlagen, obwohl der bereits tot vor ihm lag. Aber warum macht der Täter das? Spuren eines Kampfes sind nicht einmal vom Ansatz her zu erkennen. Alle Gegenstände stehen da, wo sie hingehören. Das alles unterstreicht meine Vermutungen: Zwischen Opfer und Täter ist etwas hoch Emotionales, vielleicht sogar etwas zutiefst Persönliches mit elementarer Wucht zum Ausbruch gekommen. Während ich zusehe wie kleinste Knochensplitter, vom zertrümmerten Schädelknochen des Opfers orientierungslos auf der Oberfläche der Blutlache herumtreiben, formt sich in meinem Kopf die drängende Frage: Was ist die Ursache für diesen Hassausbruch? Wenn ich das wüsste, hätte ich das Motiv und wäre dem Täter ganz nahe. Doch soweit ist es leider Gottes nicht.
Obwohl mir klar ist, dass ein Toter, der vor mir auf dem Boden liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit Eugen Brandt heißt, fühle ich mich trotzdem in die Pflicht genommen, diese beiden Annahmen zu überprüfen. Sollte auch nur ein Hauch Leben in seinem Körper stecken, bin ich verpflichtet etwas zu unternehmen. Zum Beispiel Hilfe herbeizurufen. Ebenso sollte die Identität des Opfers zu hundert Prozent geklärt sein. Ich stecke meine Beretta zurück in den Hosenbund und gehe in die Hocke. Routinemäßig taste ich Halsschlagader und Handgelenke ab, anschließend hebe ich leicht den Kopf des Opfers an, weil ich die linke Gesichtshälfte nur teilweise sehen kann, da sie größtenteils auf dem Küchenboden aufliegt. Meine Annahmen bestätigen sich schnell. Der Mann heißt Eugen Brandt, und er ist tot. Sofern das ein medizinischer Laie wie ich überhaupt sagen kann. Auf Grund seiner langsam scheckiger werdenden Haut, der gesunkenen Körpertemperatur und dass kein Blut mehr aus den Wunden an seinem Körper austritt, muss er mindestens seit einer Stunde, möglicherweise sogar zwei oder gar drei, tot sein. Mir bleibt nur die nüchterne Feststellung, ich wurde mit zwei Millionen Euro zu einem Toten geschickt. Einen Vorteil hat das Ganze allerdings auch: Von nun an ist Kutusows Auftrag kein schlichter Botengang mehr, sondern ist zu einem richtigen Mordfall mutiert. So gesehen, habe ich als Privatdetektiv einen regelrechten Karrieresprung hingelegt. In dem Moment, da ich versuche, mich wieder aufzurichten, um endlich die Polizei zu verständigen, knallt mit aller Wucht ein harter Gegenstand auf meinen Hinterkopf und löst eine heftige Explosion in meinem Kopf aus. „Küchentür!“, ist das letzte Wort, welchesmir intuitiv über die Lippen kommt. Danach versuche ich mich mit immer heftiger rudernden Armen, auf den Füßen zu halten. Doch es hilft alles nichts, ein grauer, watteartiger Nebel, der schnell dichter wird, kennt keinerlei Erbarmen und nimmt mich mit in sein verschwommenes Reich, aus dem es vorerst kein Entrinnen für mich gibt.
Als ich wieder zu mir komme, dringen Gerüche von gebratenem Fleisch und gekochtem Gemüse in meine Nase und erinnern mich daran, dass es um die Mittagszeit sein muss. Ich bekomme es hin, meinen Kopf, der still vor sich hin schmerzt, wenigstens ein paar Zentimeter anzuheben. Unwillkürlich bleibt mein Blick an dem neben mir liegenden Mann mit dem halb weggerissenen Hinterkopf hängen. Mir wird bewusst, dass ich noch nie neben einem Toten lag. Mein Kopf sinkt zurück auf die Terrakotta Platten, gleichzeitig schließe ich die Augen. Wut gegen mich baut sich in mir auf. Wieder einmal habe ich alles verkackt! Wie durch eine Lupe betrachtet, sehe ich zu, was passiert ist: Der Täter wartete hinter der Küchentür auf mich. Als ich mich über Brandt beugte, schob er die Tür unbemerkt ein Stück auf und schlug mich von hinten mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos. Das war für ihn eine mehr als simple Sache gewesen! Das hätte mir nie und nimmer passieren dürfen. Ein lächerlicher Anfängerfehler! Nach dem Betreten der Küche, als ich den Toten sah, hätte ich mich als erstes vergewissern müssen, ob sich in diesem Raum jemand aufhält. Mein Gott, das gehört zum ABC eines Ermittlers. Und gerade ich, der sich so gerne als Vollprofi sieht, vergisst die elementaren Regeln meines Berufs genau in dem Moment, wo es drauf ankommt und überprüfe als erstes, ob ein zu hundert Prozent Toter, auch wirklich zu hundert Prozent tot ist! Ich könnte mich ohrfeigen!
Allen Widrigkeiten zum Trotz bekomme ich es hin, mich am Küchentisch hochzuziehen. Gleichzeitig tauchen vor meinen Augen die vielen Bücher auf, die Brandt bisher veröffentlicht hat. Chinesische Triaden, ukrainische Oligarchen, italienische Mafia usw. Die darin agierenden Personen sind allesamt keine Klosterschüler, sondern begehen mit der größten Selbstverständlichkeit fürchterliche Dinge! Meine bisherige Klientel ist anders. Deutsch, bestens erzogen, wohlhabend und in die Jahre gekommen! Und wenn man Steuerhinterziehung und zu schnell mit dem Porsche unterwegs sein, mal außen vorlässt, sind sie alles andere als kriminell! Hier dagegen sieht es danach aus, dass Brandt sich mit echten Mafiosos angelegt hat. Womöglich hat man ihn umgebracht, um ihn als abschreckendes Beispiel auf einem Mafialehrvideo festzuhalten. Als eine Art Mahnung an die Kundschaft, sich ja ihren Regeln zu unterwerfen.
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