Es ist die Zeit nach dem verheerenden Bürgerkrieg, mit Mangelwirtschaft, Korruption und Gemauschel. Die junge Generation hat genug von den alten Seilschaften, so auch der Protagonist, ein Schriftsteller, der soeben eine satirische Erzählung über die legendäre georgische Königin Tamar aus dem 13. Jh. veröffentlicht hat. Im Zentrum des Textes steht Tamars unglückliche Heirat mit dem Russen Juri Bogoljubski. Nachdem dieser in der Hochzeitsnacht seine eheliche Pflicht nicht erfüllt, wirft Königin Tamar ihn mit dem Segen der Kirche aus dem Land. Die Satire wird gründlich missverstanden. Der Patriarch, das Oberhaupt der georgisch-orthodoxen Kirche, verlangt einen öffentlichen Widerruf von dem überraschten Autor. Als sogar seine Familie und Freunde bedroht werden, steht er vor einer schwierigen Entscheidung.
Lasha Bugadze verarbeitet auf offenherzige und humorvolle Weise ein eigenes traumatisches Erlebnis als Schriftsteller, wagt einen Blick hinter die Kulissen der georgischen Politik und enthüllt deren tief greifende Verbandelung mit der Kirche. Der erste Russe ist ein brisantes, intelligentes und zugleich hoch amüsantes Gesellschaftsporträt.
»Ich erinnere mich an keinen anderen Autor, der die jüngste Vergangenheit und Literatur in eine solche Synthese gebracht hätte.« Dato Turaschwili
Inhalt
Vorspann Ich erinnere mich, wie der Mann, der am Eichentisch stand, zwei Dokumente aus der Schublade nahm und lächelnd zu mir sagte: »Das hier«, er legte den Finger auf das linke Dokument, »ist die Erklärung über den Ausschluss aus der orthodoxen Kirche. Wenn du dich nicht öffentlich beim Volk und der Kirche entschuldigst, ist die Heilige Synode gezwungen, dieses Schriftstück zu veröffentlichen, und danach beginnt dein Ausschlussverfahren. Hier steht: ›Er lehnt den lebendigen Gott und die Gesetze der Mutterkirche ab, verhöhnt die Gefühle der Gläubigen, beschimpft und beschmutzt den Glauben orthodoxer Menschen, die Gemeinschaft der orthodoxen Heiligen und das Vermächtnis der Vorfahren der Heiligen.‹ Und hiermit«, er legte den Finger auf das rechte, »bleibst du der Heiligen Synode als verlorener Sohn in Erinnerung, dem Volk und Mutterkirche vergeben haben.« »Aber nur, wenn wir eine Entschuldigung bekommen«, bemerkte jemand in der Tiefe des Zimmers, der in der dunklen Ecke stehende Archimandrit, »wenn nicht, dann … Anathema.« »Ist das euer Ernst?«, fragte jemand hinter mir. »Die Leute sind aufgewühlt«, war die Antwort. Ausschluss. Anathema. Verlorener Sohn. Der mit dem Dokument blickte ab und zu verlegen lächelnd zu mir auf, und ich war nicht sicher, ob ihm seine Aussagen selbst unangenehm waren oder er nur einen Tick hatte. Ich war zu müde und verwirrt, um mit ihm zu scherzen oder höfliche Antworten zu geben. »Du musst dich öffentlich entschuldigen«, wiederholte der am Tisch ironisch lächelnd und unaufgeregt, »anderenfalls sind die empörten Leute nicht mehr zu beschwichtigen. Heutzutage werden Menschen doch so leicht umgebracht …«
1 | Geschichtsbuch. Kindheitschronik 1 Geschichtsbuch. Kindheitschronik
Meine Eltern gegen Georgien
Sündenliste. Der Weg der heiligen Nino
Schule. Der Zerfall der Sowjetunion
Das erste Jahr der Unabhängigkeit. Präsidenten
Eine Welt ohne Liebe. Durchsetzungswille im Chaos
Die Kriegsverlierer. Geld in der Tasche des Zugführers
Literarischer Abend. Die Rache am Geschichtsbuch
Der Priester im Flugzeug. Februar 2002
Perversionen. Februar 2002
2 | »Freie Epoche« – Angst vor der Revolution. 2001–2002
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3 | »Der erste Russe« – Die ersten Zensoren – Drohungen und Aufruhr. Januar 2002
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(–26) Erster Auftritt im Patriarchat
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4 | Revolution – Vierter Auftritt im Patriarchat
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Ich erinnere mich, wie der Mann, der am Eichentisch stand, zwei Dokumente aus der Schublade nahm und lächelnd zu mir sagte: »Das hier«, er legte den Finger auf das linke Dokument, »ist die Erklärung über den Ausschluss aus der orthodoxen Kirche. Wenn du dich nicht öffentlich beim Volk und der Kirche entschuldigst, ist die Heilige Synode gezwungen, dieses Schriftstück zu veröffentlichen, und danach beginnt dein Ausschlussverfahren. Hier steht: ›Er lehnt den lebendigen Gott und die Gesetze der Mutterkirche ab, verhöhnt die Gefühle der Gläubigen, beschimpft und beschmutzt den Glauben orthodoxer Menschen, die Gemeinschaft der orthodoxen Heiligen und das Vermächtnis der Vorfahren der Heiligen.‹ Und hiermit«, er legte den Finger auf das rechte, »bleibst du der Heiligen Synode als verlorener Sohn in Erinnerung, dem Volk und Mutterkirche vergeben haben.«
»Aber nur, wenn wir eine Entschuldigung bekommen«, bemerkte jemand in der Tiefe des Zimmers, der in der dunklen Ecke stehende Archimandrit, »wenn nicht, dann … Anathema.«
»Ist das euer Ernst?«, fragte jemand hinter mir.
»Die Leute sind aufgewühlt«, war die Antwort.
Ausschluss. Anathema. Verlorener Sohn.
Der mit dem Dokument blickte ab und zu verlegen lächelnd zu mir auf, und ich war nicht sicher, ob ihm seine Aussagen selbst unangenehm waren oder er nur einen Tick hatte.
Ich war zu müde und verwirrt, um mit ihm zu scherzen oder höfliche Antworten zu geben.
»Du musst dich öffentlich entschuldigen«, wiederholte der am Tisch ironisch lächelnd und unaufgeregt, »anderenfalls sind die empörten Leute nicht mehr zu beschwichtigen. Heutzutage werden Menschen doch so leicht umgebracht …«
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Geschichtsbuch. Kindheitschronik
Meine Eltern gegen Georgien
Meine Eltern hatten von meiner Geburt an nicht mit Lob gegeizt, war ich doch ganze dreiundzwanzig Jahre lang – objektiv betrachtet – lobenswert gewesen. Jetzt jedoch tauchten völlig fremde Leute auf und sagten ihnen, dass dieser dreiundzwanzigjährige Mensch – objektiv betrachtet – nichts tauge und wenn er sich nicht so benähme, wie es sich gehöre, verdiene er nicht einmal die Bezeichnung »verlorener Sohn«.
»Heutzutage werden Menschen ja so leicht umgebracht …«
Auch das bekam mein Vater zu hören. Noch dazu an einem Ort, an dem normalerweise, wenn auch nur anstandshalber, über Tugend gesprochen werden sollte: neben dem Ruhezimmer des orthodoxen Patriarchen.
»Es ist deine Schuld«, sollte der Patriarch später zu meinem Vater sagen, »du hast das Kind nicht ordentlich erzogen.«
Dabei war ich in den Augen meiner Eltern (also auch in denen meines über die Bemerkung des Patriarchen zutiefst verletzten Vaters) – objektiv betrachtet – ein liebes, kluges, gutes, zweifellos ordentliches und begabtes dreiundzwanzigjähriges Kind , ungewöhnlich, schon als Junge allen bekannt als Schriftsteller und somit ein berühmter Jugendlicher, knapp zehn Jahre älter als das junge Land Georgien, ein Kind, dem eigentlich niemand etwas hätte vorwerfen können.
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