Volker Janning
Max mit Sartre im Freiwilligen Sozialen Jahr
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Inhaltsverzeichnis
Titel Volker Janning Max mit Sartre im Freiwilligen Sozialen Jahr Dieses ebook wurde erstellt bei
Katerstimmung in München
Die erste Woche im Freiwilligen Sozialen Jahr
Dienstbeginn bei Frau Blume
Die Entdeckung der Langsamkeit
Max hört von Jean-Paul Sartre
Max und Lea
Liebeskummer
Max trifft Lea wieder
Weihnachten in Heiligenhafen
Kathrins bittere Wahrheit über Lucas´ Suizid
Gewissensqualen in München
Max trifft Lucas´ Mutter in Kiel
Rückfahrt und Neustart in München
Impressum neobooks
Seine Großmutter hatte ihm geraten, genau diese Situationen zu genießen. Aber Max fühlte sich im Augenblick nicht in der Lage, Genuss zu empfinden. Den gestrigen Abend hatte er mit seinem älteren Bruder Jan in einem Münchener Biergarten verbracht. Dabei wäre er viel lieber abends im Hotel geblieben und früh zu Bett gegangen. Er ärgerte sich sehr, Jan nachgegeben zu haben, der ihn wortreich zu einem `Symposion´ gedrängt hatte: Man befände sich schließlich in der Hauptstadt des Bieres und Fußballs! Außerdem stünde ein prächtiger Sommerabend bevor! Und überhaupt: Er habe ihn knapp 1000 Kilometer durch die Republik gefahren, da könne er ihm doch etwas Gesellschaft leisten und ein Bier mittrinken! Max´ halbherzig vorgebrachtem Einwand, dass am nächsten Tag sein Dienst beginne, war Jan strahlend mit dem Hinweis begegnet, dass er am ersten Tag noch nicht richtig arbeiten müsse. Und so hatten die Brüder den Abend zusammen mit zwei Bekannten in einer Art und Weise verbracht, wie gesellige Abende ohne weibliche Begleitung unter jungen Männern oft verlaufen. Nun saß Max in Jans Auto und litt noch immer unter heftigen Kopfschmerzen, trotz der bereits vor zwei Stunden eingenommenen Schmerztabletten. Mehrmals nahm er Kaugummis zu sich, weil er fürchtete nach Alkohol zu riechen. Kurzum: Max war aufgrund seines Katers viel zu abgelenkt, um die Situation zu genießen. Der von der Großmutter empfohlene Genuss war freilich kein körperlich-triebhafter, sondern ein geistig-seelischer. Sie meinte, man solle Lebenssituationen, in denen man Unbekanntes und Unbequemes erfahre, genießen, d.h. bewusst erleben, gerade dann, wenn man eingeschüchtert, ängstlich oder nervös sei. Denn in derartigen Momenten könne man viel über sich und seinen Umgang mit anderen lernen. Altmodisch formuliert: einen Reifeprozess durchlaufen, Souveränität gewinnen und seinen Platz in der Welt finden. Max dachte an die Initiationsromane, die er in der Jugend bzw. Schule hatte lesen müssen. Aber nun galt es nicht, Handlungsabläufe und Personenkonstellationen eines Romans in einer Deutschklausur begriffsklar zu durchleuchten. Eine Form der Initiation stand Max vielmehr persönlich bevor. Denn während viele seiner ehemaligen Mitschüler eine Ausbildung absolvierten oder studierten und damit die ersten Sprossen einer wie auch immer gearteten Karriereleiter betraten, hatte sich Max für ein FSJ, ein `Freiwilliges Soziales Jahr´ entschieden. Und dieses Jahr wollte er weit entfernt von seiner Heimat verbringen. Daher hatte er sich beim Martinusstift beworben, einem Rehabilitationszentrum für körperlich Behinderte in München. Max sehnte sich abseits von Schule und Hochschule nach etwas grundsätzlich `Neuem´, auch wenn er dieses Sehnen nicht immer auf den Begriff bringen konnte. In München hoffte er der Enge seiner Heimatstadt und vor allem der steten Erinnerung an den Suizid eines alten Schulfreundes entfliehen zu können. Hier lockten Weite, Weltläufigkeit, prächtige Bauten, Cafés, Discos, die nahen Alpen und mit attraktiven Frauen auch das vage Versprechen auf männliches Glück. In Max pulsierte also die neugierige, lebensbejahende und vorwärtstreibende Kraft, die wohl nur der Jugend innewohnt. Im Moment pulsierten aber - wie gesagt - nur die Schmerzen in seiner Stirn. Seine Großmutter hätte voller Unverständnis und Missbilligung den Kopf geschüttelt.
Jan riss ihn aus seinen trüben Gedanken, als er mit dem Auto am Martinusstift hielt und mit sarkastischem Tonfall bemerkte, Max´ erste `Kundschaft´ erblicken zu können. Max schaute irritiert um sich und sah mehrere Rollstuhlfahrer, die offenbar gerade das Rehabilitationszentrum verlassen hatten. Sie fuhren auf dem Bürgersteig und bewegten mit ihren muskulösen Oberarmen erstaunlich schnell die Räder ihrer Rollstühle. Über Jans Gleichsetzung von körperlich Behinderten und Kunden konnte Max allerdings nicht lachen. Eine lockere Tätigkeit stand ihm jedenfalls nicht bevor. Dies wurde ihm auch klar, als er eine ältere Frau sah, die ohne den Einsatz ihrer reglosen Arme lediglich mithilfe eines Mundstücks ihren Rollstuhl sehr langsam in Bewegung setzte. Max mied eine längere Betrachtung der Frau, weil er sie nicht wie ein Voyeur anstarren wollte. Außerdem fühlte er sich in einer solch miserablen Verfassung, dass er sich im Augenblick nicht noch weiter herunterziehen lassen wollte. Er hielt lieber mit Jan nach einer Parklücke Ausschau. Als sie fündig geworden waren, stiegen die Brüder aus dem Auto und standen vor einem großen Gebäudekomplex, der das Martinusstift umfasste. Max atmete tief ein. Die Kühle und frische Luft, die seinen Kater etwas linderten, taten ihm gut. Sie ließen die Koffer zunächst im Wagen, durchschritten die Toreinfahrt und standen in einem Innenhof, der einen kleinen Park mit Laubbäumen, mehreren Sitzbänken und einem Springbrunnen enthielt. Eingerahmt wurde der Park von verschiedenen Gebäuden, in denen sich Wohnungen, eine Wäscherei, Verwaltungsräume und Pflegeeinrichtungen befanden. Schräg gegenüber der Toreinfahrt erstreckte sich eine Behindertenwerkstatt, in der Möbel hergestellt wurden. Als die Brüder den Eingang des Verwaltungstraktes erblickt hatten, traten sie ein und standen kurz darauf vor dem Personalbüro von Frau Müller, die für die FSJler zuständig war. Jan amüsierte sich über die Nervosität seines Bruders, der vor der Begegnung mit der Personalchefin nochmals den Geruch seines Atems kontrollierte. Er neckte ihn mit der Aufforderung, sich zusammenzureißen, endlich hineinzugehen und möglichst keinen schlechten ersten Eindruck zu hinterlassen. Max ärgerte sich über Jans Stichelei, sagte aber nichts, sondern klopfte an die Tür. Unmittelbar darauf vernahm er eine Stimme, die ihn mit bayerischem Dialekt hereinbat. Max betrat ein großes, mit zahlreichen Blumen und Pflanzen geschmücktes Zimmer. Hinter einem mit Mappen, Aktenordnern und Notizzetteln beladenen Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters, die aufstand und ihn freundlich begrüßte:
„Griaß God, san Sie Max Niemo?“
„Guten Morgen! Sagten Sie Max Niemann?“
„Jo freilich meine i des.“
„Ja, das bin ich.“
„Des hob i ma dachd. Sonst san nämlich de andern FSJler scho do. Mei Name is Elena Mülla. I bin fia olle Personalfrong zuaständig. Herzlich wuikomma in Minga!“
Frau Müller erkundigte sich nach Max´ Befinden und drückte ihre Verwunderung aus, dass kaum gebürtige Münchner zu den FSJlern gehörten. Sie erläuterte verschiedene verwaltungstechnische Details und händigte ihm dann seinen Zimmerschlüssel sowie einen Ablaufplan der ersten Woche aus.
„So, und jetz zeig i Ihna Ihre Wohnung. Sie hom´s narrisch nett ogetroffa.“
Max tat so, als ob er alles verstanden habe. Er folgte Frau Müller, die ihn in ein etwas abgelegenes, am Rande des Rehabilitationszentrums befindliches Gebäude führte, das erst in den 90er Jahren gebaut worden war. Es enthielt sechs Wohnungen, in dem jeweils drei FSJler bzw. FSJlerinnen untergebracht waren. Seine Wohnung befand sich im 1. Stock. Unter ihm wohnten drei junge Frauen, die schon seit Anfang Januar ihr FSJ absolvierten. Aus ihrer Wohnung drang laute Musik.
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