„Besteht die Möglichkeit, dass deine Mutter irgendwann einmal wieder besser sprechen kann?“
„Nein. Dies ist leider ausgeschlossen. Du wirst dich bei deiner Tätigkeit an die Langsamkeit mancher Bewegungs- und Handlungsabläufe gewöhnen müssen. Ich weiß, dass das durchaus anstrengend sein kann. Aber ich bitte dich, mit meiner Mutter geduldig zu sein. Wenn du sie näher kennen lernst, wirst du merken, dass sie am meisten darunter leidet, anderen zur Last zu fallen.“
Gernots Worte irritierten Max, weil es dieser Bitte gar nicht bedurft hätte, zumal er sehr viel Respekt vor Frau Blume empfand. Dennoch hatte er das Gefühl, gegenüber dem Sohn seine guten Vorsätze auch deutlich artikulieren zu müssen.
„Du kannst dich darauf verlassen, dass ich nicht die Geduld verlieren werde. Jedenfalls habe ich mir das fest vorgenommen.“
„Danke!“, erwiderte Gernot. „Wenn du etwas Geduld aufbringst, erwartet dich eine nicht unangenehme Zeit in diesem Haus. Da bin ich mir sehr sicher.“
Darauf gingen sie in Frau Blumes Zimmer zurück, die langsam und offenbar mit großer Konzentration und Anstrengung einzelne Buchstaben in den Computer eingab. Sie war so vertieft in ihre Tätigkeit, dass sie das Erscheinen der beiden anfangs nicht bemerkte. Erst nach dem Ruf von Herrn Blume, endlich zum Frühstück zu kommen, schaute sie auf. Gernot trat an seine Mutter heran, nahm den Laptop vom Rollstuhltischchen und stellte ihn ins Regal. Frau Blume fuhr darauf mit dem Rollstuhl durch den länglichen Flur in das Wohnzimmer, in dem Herr Blume bereits das Frühstück bereitet hatte. Nachdem seine Frau offenbar ihren Stammplatz angesteuert hatte und am Tisch zum Stehen gekommen war, nahmen ihr Sohn, dann ihr Mann und schließlich Max Platz. Dieser schaute vor allem zu, wie Gernot seine Mutter versorgte, was offenbar nach einem festen Schema ablief: Essenswunsch erfragen, Brot mit Aprikosenmarmelade (die sie besonders mochte) beschmieren, gesüßten Kaffee mit Milch einschenken und anschließend wie ein Kind langsam und geduldig füttern: Brot abbeißen lassen, Mundwinkel abwischen, Brotreste vom Pullover schütteln, Kaffee reichen, wieder abwischen und so weiter. Max fragte sich, ob man bei einer derartig langsamen Nahrungsaufnahme überhaupt Genuss empfinden könne. Währenddessen erzählte Herr Blume seiner Frau von einem Anruf einer gemeinsamen Freundin, die in irgendeinem afrikanischen Land gerade eine Safari machte und sich seiner Meinung nach unnötig in eine Gefahrenregion begeben habe. Frau Blume nickte und rollte dabei die Augen, was offenbar Missbilligung signalisierte. Viel wichtiger war ihr aber der Blickkontakt zu Max, durch den sie ihn aufforderte, doch auch seine eigenen Brötchen aufzuessen. Obwohl Max Hunger verspürte und bei guter Kondition durchaus sechs Brötchen vertilgen konnte, beschränkte er sich aufgrund seines Gefühls, höflich bleiben zu müssen, auf lediglich zwei Brötchen. Nach dem Frühstück brachte Gernot seine Mutter ins Zimmer, weil sie den Heilpraktiker erwartete. Herr Blume führte derweil Max in den Keller.
„Wie du siehst, besitzt meine Frau einen eigenen Aufzug, mit dem sie in den Keller fahren und zum Vorratskeller gelangen kann. Denn nach wie vor soll sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Küche und die Verpflegung zuständig sein. Ich versuche damit, etwas Vertrautes aus dem vergangenen Leben in das jetzige Dasein hinüberzuretten. Denn vor ihrem Unfall hat sie – neben ihrer Halbtagsstelle als Chemikerin - unseren Haushalt geführt. Deshalb soll sie auch ihren eigenen Zuständigkeitsbereich haben. Du wirst also mit ihr ab und zu in den Keller fahren und sichten, was von mir eingekauft werden muss. Die Einkäufe erledige immer ich.“
Als sie gemeinsam im Aufzug heruntergefahren waren, wurde Max ein sehr ordentlicher und sauberer Keller präsentiert. Max empfand allerdings angesichts der monologisierenden Erklärungen von Herrn Blume, der sich detailliert über das Beschaffen und Lagern von Lebensmitteln in Vorratsräumen äußerte, ein zunehmendes Unbehagen. Erlöst fühlte sich Max erst durch das Läuten der Türglocke, die Tobias´ Ankunft ankündigte. Der erfahrene Pfleger trat den Tagdienst an und vermittelte Max weitere wichtige Informationen und Tipps zur Pflege und Betreuung. Dies betraf etwa das Putzen der Zähne, das Verabreichen des `Schiffchens´, das Abführen, das Säubern, das Wechseln einer Windel im Rollstuhl, die Unternehmung eines Spaziergangs bzw. einer Spazierfahrt, die gemeinsame Benutzung von Rolltreppen oder die gemeinsame Fahrt im großen Wagen. Am späten Nachmittag wurde mit dem Kochen des Abendessens begonnen. Frau Blume gab Anweisungen, die Max einzeln ausführen musste: Wasser aufsetzen, etwas Öl und Salz ins kochende Wasser träufeln lassen, anschließend 500 Gramm Nudeln hinzugeben, die Mehlschwitze bereiten usw. Es war nicht verwunderlich, dass die Zubereitung eines einfachen Nudelgerichts mit Salat und etwas Fleisch fast eine Stunde in Anspruch nahm. Max bemühte sich aber fast schon selbstvergessen, jeder Weisung und Bitte von Frau Blume Gehör zu schenken und sich ganz in die Rolle des eifrig lernenden Küchenadepten zu begeben. Das Annehmen dieser Rolle fiel ihm nicht besonders schwer, zumal er etwas Neues lernen konnte. Aber auch Frau Blume verhielt sich bei dieser Tätigkeit anfangs auffallend fröhlich. Vermutlich stellte der Küchendienst eine der wenigen Situationen dar, in der sich Frau Blume noch wirklich nützlich fühlen konnte. Oder auch nur - Frau Blume war nämlich eigentlich viel zu intelligent für diese Rollenspielchen – ihrem Umfeld zuliebe diese Rolle authentisch annahm. Erst am Ende des FSJ, so in den letzten zwei, drei Monaten, löste sich dieses Einverständnis etwas auf. Max kannte nach einem Dreivierteljahr fast jedes ihrer Rezepte, wusste, wieviel Sahne, Käse, Salz oder Zucker Frau Blume zum Würzen oder Süßen einer Speise verwendete, und wurde zunehmend ungeduldig. Frau Blume merkte dies schnell und verließ dann auch häufiger schon früher die Küche. Dennoch verband in den ersten Monaten gerade diese Essenszubereitung Frau Blume und Max. Dies war eine Phase, in der beide gleichrangig an einem Produkt arbeiteten und sich nicht nur als Pfleger und Pflegepatient gegenüberstanden bzw. -saßen. Auch wenn dieses erarbeitete `Produkt´ beim Essen ein manchmal zu mechanisches Lob „Lecker Iris!“ des Ehemanns erhielt, so war es doch zumeist bekömmlich und schmackhaft.
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