Bevor sie die Krähen sehen, vernehmen ihre empfindsamen Ohren deren Geschrei.
Elsie, inzwischen auf dem Dachgiebel des Hulbe-Hauses in der Mönckebergstraße, worauf die Kogge aus vergoldenem Kupferblech montiert ist, hat große Mühe, sie gemeinsam mit ihrem Partner Elias vor den darüber kreisenden Schwarzröcken zu verteidigen. Nur ungern gesteht sie sich ein, dass ein imposanter Kater wie Captain Nemo die vielleicht stärker beeindrucken könnte. So schnell ihre Flügel sie tragen, fliegt sie zu ihm und den anderen hinunter und zetert aufgeregt: "Schneller, ihr müsst euch beeilen! Beeilt euch!"
Die Vierbeiner fliegen schier über den Asphalt, sogar Captain Nemo. "Okay", maunzt er atemlos, "dafür musst du aber gleich deinen Teil unserer Abmachung erfüllen."
Knapp drei Kilometer entfernt, sitzt Freddy hinter dem Steuer, der Verzweiflung nahe. Können diese Vollidioten um ihn herum nicht lesen und wenigstens versuchen, einen Korridor zu bilden, durch den er zu dem verletzten Hund gelangen kann?, fragt er sich händeringend. Der Schriftzug auf dem Rettungswagen ist doch wirklich groß genug. Für die geht's schließlich nicht um Leben und Tod, sondern höchstens um ein verspätetes Abendessen oder um ein verpasstes Konzert.
Okay, denkt Freddy, letzteres können sie gerne haben. Anhaltend drückt er auf die Hupe. Das bringt ihn jedoch nicht weiter, sondern erzeugt nur Gegenhupen und Geschrei. Egal, irgendwie muss Freddy seiner Verzweiflung Ausdruck verleihen. Also hupt er und hupt – bis er aus dem Augenwinkel heraus bemerkt, dass eine Elster sich auf dem Außenspiegel der Beifahrerseite niedergelassen hat und auf den leeren Sitzplatz starrt.
Wo ist Sammy? Fragend blickt Elsie zu dem Mann hinter'm Steuer. Dem kann man die Besorgnis von den Falten auf der Stirn ablesen. Er reibt sich die Augen, lässt das Fenster der Beifahrerseite herunter und fragt: "Was willst du denn hier?" Die Frage ist rein rhetorisch gemeint, aber Elsie legt den Kopf schief und sieht Freddy aus ihren glänzenden Augen an, als würde sie wirklich überlegen. "Kannst ja auch nichts machen", hört er sich zu seinem eigenen Erstaunen weiterreden.
"Krah", erwidert die Elster. "Dass ihr Menschen aber auch immer alles besser wissen müsst." Freddy schlägt aufs Lenkrad und lacht über sich selbst. "Jetzt unterhalte ich mich vor lauter Verzweiflung schon mit einer Elster, hab ja wirklich einen Vogel!"
Erschrocken flattert Elsie auf, setzt sich aber sogleich wieder hin und krächzt beleidigt: "Du – einen Vogel? Welche auch nur halbwegs vernünftige Vogelfrau würde dich schon auswählen? Du kannst ja nicht mal fliegen!" Würde er zum Bodenbrüter taugen? Elsie stellt sich vor, wie Freddy brütend auf Feld oder Wiese sitzt. Ein absonderlicher Gedanke, wobei... Ein Nest könnte er vor Füchsen oder anderem hiesigen Raubzeug durchaus verteidigen, gesteht sie sich widerwillig ein.
Apropos Raubzeug – die Krähen hatten sich tatsächlich verzogen, als Captain Nemo und Mistie von der Rückseite des Hauses aus über den Ast eines Baumes angerückt sind und die goldene Kogge besetzten. Elias wähnte sich fast in seinem Ehrgefühl getroffen, weil er sich plötzlich so überflüssig vorkam.
In ihrer Konzentration aufeinander entgeht Elsie und Freddy, dass sie mittlerweile die Aufmerksamkeit anderer Verkehrsteilnehmer erregen. Sogar Passanten, die sich zwischen steckengebliebenen Fahrzeugen zur anderen Straßenseite hindurchlavieren, schauen verwundert zu ihnen herüber. Was ist denn das für eine merkwürdige Vorstellung? "Tiernotrettung", liest einer laut die weiße Aufschrift auf dem roten Lack vor. "Genau", erwidert Freddy und beugt sich zum Fenster hinaus. "Aber wenn ich hier noch lange feststecke, wird das dem armen angefahrenen Hündchen ein paar Straßen weiter wohl nichts mehr nützen."
"Sind sie Tierarzt?", fragt eine Frau. Freddy schüttelt den Kopf und deutet durch die Frontscheibe über die Reihen aus anderen Autos und Motorrädern hinweg. Die breite Straße ähnelt eher einem unüberschaubaren Parkplatz. "Der Doc ist mit dem Notfallkoffer auf Schusters Rappen weitergeeilt. Keine Ahnung, ob er den Unfallort inzwischen erreicht hat."
"Aha", krächzt Elsie. "So ist das also. Aber was soll dieses ganze unnütze Gerede von euch Menschen hier? Bringt uns das etwa auch nur einen Flügelschlag voran? Himmel – wenn wir Vögel uns so anstellen würden, wer von uns Winterurlaubern könnte dann Afrika erreichen, geschweige denn von dort zurückkehren? Bei uns gibt's keine Staus. Jeder in der Formation kennt seinen Platz. Mensch – ihr seid wirklich eine Blamage für alle Zweibeiner!"
"Warum schimpft sie denn so?", fragt die Frau von vorhin, worauf Freddy lakonisch vorschlägt: "Fragen Sie sie doch selbst." Aber da ist Elsie auch schon auf und davon. Für Erklärungen, die von Menschen sowieso nicht verstanden werden, will sie keine Zeit vergeuden.
Hinter der nächsten Kreuzung erkennt sie aus ihrer Vogelperspektive den Unfallort und erwägt, unmittelbar daneben zu landen, auf dem untersten Ast einer Linde, die mit einer Reihe von Artgenossen die Straße säumt. In letzter Sekunde schwingt sie sich jedoch wieder himmelwärts, bis über die Baumkrone. Dort unten riecht es nach Tod. Der Rettungswagen muss her, und zwar schnell!
Am Fuß der Linde kniet Sammy in einer Blutlache, umgeben von schaulustigen Passanten, und kämpft um das Leben des vor ihm liegenden Berner Sennenhundes. Er ist von einem LKW erfasst und an den Straßenrand geschleudert worden. Sammy bindet das verletzte linke Vorderbein ab und stillt somit die Blutung aus der Arterie. Wie er durch Druck auf die Maulschleimhaut feststellt, wird der Kreislauf des Rüden trotzdem schwächer. Sie färbt sich nämlich nur sehr verzögert wieder rosa. Der Rüde ist kaum noch bei Bewusstsein, hat wahrscheinlich zusätzlich innere Verletzungen. Sein röchelnder Atem erregt in Sammy einen Verdacht und lässt ihn befürchten, dass er seinen Patienten an den Tod verliert.
Aber aufgeben kommt für den Tierarzt aus Leidenschaft nicht in Frage – nicht, solange noch ein Fünkchen Leben in dem Hund glimmt.
Umso deutlichere Lebensäußerungen geben die Schaulustigen von sich. Sammy blendet alle Kommentare aus, konzentriert sich nur auf das Tier und erwägt, es zum Rettungswagen zu tragen. Dabei würde er jedoch weitere Verletzungen riskieren, etwa, dass eine gebrochene Rippe ein lebenswichtiges Organ durchstößt. Außerdem wiegt der Hund mindestens vierzig Kilo. Aber die Zeit drängt. Jede weitere Minute, die verstreicht, kann ihm den Tod bringen.
Gerade als Sammy ihn behutsam aufhebt, ertönt ein Geschrei, vor dem er unmöglich die Ohren verschließen kann. Sogar der Verletzte auf seinen Armen hebt schwach ein Lid und zuckt mit der Lefze.
Wie ausgestopft sitzt das weiße Kaninchen im Heu, die Augen starr vor Schreck, während der Mann es mit der Möhrenspitze an der Nase kitzelt.
Von hinten, aus dem Holzhäuschen am Rand des Geheges, dringt warnend die Stimme seines Gefährten an die langen Ohren: "Mach besser, was er will."
Aber das Kaninchen kann nicht fressen. Ihm ist die Kehle vor Angst wie zugeschnürt. Da schürt es die Panik nur noch, als das andere vom Haus aus weiterwarnt: "Pass auf, gleich greift er nach dir, duck dich."
Die riesige Männerhand schwebt über dem Nacken des Kaninchens. "Jetzt friss endlich, friss!", zischt Anton und piekst es mit der Möhrenspitze in die Nase. Reflexartig zuckt es zurück. Dem Häftling juckt es gewaltig in den Fingern. Die wollen zupacken, sich um den weichen Hals schließen, ganz fest, und ihm die Luft abdrücken – so, dass dem Vieh die Augen aus den Höhlen quellen, dass es platzt wie eine reife Frucht und Blut verspritzt.
Anton weiß, wozu diese Tiere angeschafft wurden. Sie sollen die soziale Kompetenz sowie das Verantwortungsbewusstsein der Inhaftierten fördern. So jedenfalls hat es die Knastpsychologin mal zu einem Aufseher gesagt. Pah, kann ja sein, dass manche Weichlinge darauf reinfallen!
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